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Im Fadenkreuz der Angst

Im Fadenkreuz der Angst

Titel: Im Fadenkreuz der Angst
Autoren: dtv
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bei meinen Eltern an. Sie meinte, es sei nur eine Frage der Zeit, bis ich in der Jugendpsychiatrie landen würde. Zu Hause wurde ich an den Küchentisch gesetzt und ohne Ende angebrüllt. Die übliche Nummer: Ich würde Schande über die Familiebringen, unseren guten Namen ruinieren, Mom und Dad würden sich nie wieder in der Nachbarschaft sehen lassen können.
    Ich dachte, ich könnte meinen Kopf aus der Schlinge ziehen, wenn ich Dad erzählte, Mary Louise habe versucht, mich zu bekehren. Das machte ihn nur noch wütender. »Wie kann die Schule es wagen, eine Arbeitsgemeinschaft für Missionsarbeit anzubieten? Und wie kannst du es wagen, dich dahinter zu verstecken, um deine Verantwortung zu schmälern? Du weißt, was der Prophet zum Thema Unzucht gesagt hat!«
    Wie bitte? Ich hatte einen BH berührt. Mit Erlaubnis. Man hätte meinen können, Dad wäre Mr Prescott.
    Mom versuchte, Dad auf »die Probleme der Pubertät« hinzuweisen, aber er hörte nicht auf, er faselte von Mädchen und Versuchungen und ich müsse lernen, Disziplin zu wahren und »schlechte Einflüsse« zu meiden, womit er Andy und Marty meinte, aber das konnte er nicht sagen, denn die waren unsere Nachbarn und er hatte nicht die Absicht umzuziehen.
    Kurz, ich wurde in die Roosevelt-Academy für Jungen abgeschoben, in eine Schule, die angeblich frei von »Ablenkungen« war, also von Mädchen, denn die führten unweigerlich zu »unreinen Gedanken«, die meine »Seele beschmutzen« würden.
    Die Turmuhr schmettert ihr Signal. Noch fünf Minuten bis Schulbeginn. Englisch, Mathe, Mittagspause, Naturkunde, Geschichte, Schulglocke   – Freiheit.
    Ich bewege meinen Arsch den Hügel rauf. Hinein in die Hölle.

6
    Letzte Stunde. Geschichte. Countdown für die Fahrt zum Ferienhaus.
    Mr Bernstein steht mit frisch geschnittenen und gegelten Haaren vor der Klasse. Heute trägt er einen cremefarbenen Anzug und einen gelb gestreiften Schlips. Wie üblich beginnt er seine Stunde mit einem kurzen Vortrag, gespickt mit persönlichen Meinungen, die uns garantiert zum Reden bringen. Manchmal kriegt er Ärger mit Eltern, weil er sich nicht an den Lehrplan hält oder kontroverse Ansichten vertritt, aber das ist ihm egal. »Ich unterrichte hier seit Urzeiten«, scherzt er. »Mich werden Sie nicht so schnell los.«
    Heute referiert er über Hexenverfolgungen im mittelalterlichen Europa und im nordamerikanischen Salem während der Kolonialzeit. »Das waren entsetzliche Zeiten für alle, die irgendwie anders waren«, ruft er aus und fuchtelt mit den Armen. »Die Herrschenden haben Furcht verbreitet. Ihre Untertanen haben sich gegenseitig bespitzelt. Bloße Gerüchte führten dazu, dass Menschen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden.« Mr Bernsteins Vorträge sind ziemlich unterhaltsam, vor allem, wenn sich seine Arme in Bewegung setzen, aber trotzdem sind es immer noch dreiundvierzig Minuten und ich höre nur bla, bla, bla.
    Ich blicke rüber zu Mitchell Kennedy. Seine Lippen bewegen sich. Mitchell wiederholt alles, was die Lehrer sagen. Er behauptet, das würde ihm helfen, den Stoff zu behalten. Von mir aus.
    Noch zweiundvierzig Minuten. Andy und Marty haben freitags die letzte Stunde frei, also werden sie hoffentlich beim letzten Läuten vor meiner Schule stehen. Ich schließe die Augen und stelle mir den Geruch von Fisch und Pinien vor, das Geräusch von Wellen, die an Felsenklippen schwappen.
    Noch einundvierzig Minuten und dreißig Sekunden. Ich zähle die Löcher in den Dämmplatten an der Decke. Ich gucke zum Poster von George Washington. Ich mache mir Gedanken über seine hölzernen Zähne. Mit den Dingern hat er geküsst. Hat er sie geputzt? Oder geschmirgelt? Hat er je Trockenfäule bekommen?
    Noch einundvierzig Minuten und zwanzig Sekunden. Warum vergeht Zeit so unendlich langsam?
    Aua.
    Eddy Harrison hat mir seinen Kuli in den Rücken gepiekt. Eddys vollständiger Name lautet: Edward Thomas Harrison der Dritte. Ja, »der Dritte«. Ich nenne ihn Eddy, die Fritte. Er spielt in der Footballmannschaft und ist bullig vom Gewichtestemmen. Und natürlich von den Anabolika. Die haben seinen Körper ordentlich anschwellen lassen, bloß seiner Akne haben sie nicht gutgetan. Seine Pickel sind wulstig wie Blumenkohl. Damit könnte er bei einem Wettbewerb glatt einen Preis gewinnen.
    Eddy wartet einen Moment, dann piekt er mich wieder. Dad sagt: »Schläger provozieren, um eine Reaktion zu bekommen. Wenn du sie einfach ignorierst, hören sie auf.« Dad hat keine Ahnung.
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