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Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Titel: Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
Autoren: Gunnar Staalesen
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reichlich Tage vor dir. Du bist gesund und stark
    und …«
»Aber die Jahre vergehen, Veum – und der Wolf jagt.« »Der Wolf?«
»Die Zeit, Veum. Die Zeit schleicht durch die Straßen und
    fletscht die Zähne nach dir. Eines Tages schnappt sie zu, und eines Tages springt sie dir an die Kehle. Und dann bist du fertig. Von der Tagesordnung gestrichen.«
    Ich sagte vorsichtig: »Aber vielleicht kann man auf neue Tagesordnungen gesetzt werden?«
Er legte die Zeitung weg und schlug beide Handflächen so schwer auf den Tisch, daß das Bierglas zwischen ihnen hüpfte. »Daran glaube ich einfach nicht!« sagte er düster.
Ich sah mich um. Der Nieselregen draußen machte den Raum dunkel und herbstlich. Die Beleuchtung war nie besonders schmeichelhaft gewesen, und die Gesichter um uns herum klafften wie offene Wunden. Augen mit den Flecken verwundeter Einsamkeit, frustrierten Übermuts; Münder, die nach Gläsern geiferten, kauten sinnlose Worte hervor, während die Zeit verging, unerbittlich und gnadenlos. Plötzlich fiel mir auf, daß es ein treffendes, poetisches Bild war, das er mir da gezeichnet hatte. Und ich sah ihn vor mir: einen zottigen Wolf, mit scharfen Reißzähnen, ein einsamer Jäger, todbringend und unüberwindbar. Der Fenriswolf, ewig auf Jagd. Er gehörte hierher, in die Straßen, die uns draußen erwarteten. In den Wäldern und Hochebenen hatten sie den Wolf ausgerottet. Aber in der Stadt jagt er, durch die asphaltgedeckten Straßen der Städte jagt er, über glänzenden Pflasterstein und die gähnenden Rinnsteine entlang jagt er – der Wolf, die Zeit. Vielleicht war es ratsam, drinnen zu bleiben.
Ich sah Hjalmar Nymark an. Das markante Gesicht war verschlossen, unzugänglich. Die dunklen Augen weit, weit weg. Er saß aufrecht am Tisch, den Kopf leicht nach hinten geneigt und den Blick an etwas direkt über meinem Kopf geheftet – und unendlich weit weg. Die eine Hand krümmte sich um die zusammengerollte Zeitung, die andere lag am Fuß des Bierglases, wie eine gefällte Beute.
»Erzähl mir lieber«, sagte ich, »erzähl mir lieber von Pfau.«
Ganz plötzlich war er wieder da. »Warum?« fragte er mißtrauisch. Ich zuckte mit den Schultern und machte eine unbestimmte Handbewegung. »Es hört sich – interessant an.«
Er sah mich verbissen an. Dann entspannte sich sein Gesicht, nicht in einem Lächeln, sondern als würde es sich plötzlich öffnen. Er sagte:
»Entschuldige! Ich bin heute nicht richtig in Form.« Er sah sich um. »Dieser Laden geht mir auf die Nerven. Laß uns zu mir nach Hause gehen. Ich hab da eine Flasche stehen, und dann erzähl ich dir …«
Wir tranken aus, standen auf und gingen. Draußen trieb der Regen wie Spinnengewebe vom Meer herein: lange, klebrige Fäden, die sich ins Haar, auf Haut und Kleider hefteten und dich traurig und schwer machten. Oben am Fjellhang bogen sich die Bäume, grün und schwanger und in den Gärten zum Fjellvei hinauf hatten die ersten, bleichen Fliederblüten sich wie schlummernde, blauweiße Fledermäuse festgekrallt. Aber der schwere, sättigende Duft der Blumen erreichte nicht uns, die wir da im Regen standen auf einem verwehten Stück Gehsteig, am Rand eines verlassenen Kais. Ich konnte nicht anders, ich mußte mich umsehen – nach dem Wolf. Sehen konnte ich ihn nirgends, aber strich ich mir mit der Hand über das Gesicht, konnte ich fühlen, wo seine Krallen mich getroffen hatten.
Das war das erste Mal, daß Hjalmar Nymark und ich das Lokal gleichzeitig verließen.
4
    Hjalmar Nymark wohnte im dritten Stock eines alten Bergenser Stadthauses im unteren Teil der Skottegate. Die Wohnung bestand aus zwei kleinen Räumen, Küche und einem engen Klo mit Eingang vom Treppenhaus. Von der Küche führte eine schmale Tür zu einer Feuertreppe, und durch die grauweißen Gardinen konntest du über die Häuser unten in der Nøstegate hinweg auf den Puddefjord sehen, wo die Askøy-Fähre treu und unermüdlich durch das Regenwetter davonstampfte. Wir holten uns jeder draußen in der Küche ein Glas, bevor wir ins Wohnzimmer gingen, wo Hjalmar Nymark eine ungeöffnete Flasche Eau de Vie aus einem abgestoßenen, braunlackierten Büffet hervorholte. Hier wiesen die Fenster von der Sonne weg, hinauf zum Kloster.
    Hjalmar Nymark schenkte die Gläser voll bis zum Rand, ohne Wasser zum Verdünnen anzubieten. »Skål!« sagte er.
»Skål!« sagte ich. Der Traubenschnaps zerrte im Hals und lief langsam durch den Körper hinab, bis er sich irgendwo unten im Magen wie eine
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