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Im Dunkel der Waelder

Im Dunkel der Waelder

Titel: Im Dunkel der Waelder
Autoren: Brigitte Aubert
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zufällig spazieren und hat alles beobachtet! Sie hat nicht gelogen, als sie sagte, daß sie den Mörder kenne! Und ich weiß noch nicht einmal, wer sie ist. Virginie. Ich versuche mich zu erinnern. Ich habe im Kino so viele Kinder gesehen, aber es gibt sehr viele neue Siedlungen hier, jeden Tag ziehen neue Leute her. Die einzige Virginie, an die ich mich erinnere, war klein und dick, ungefähr zehn Jahre alt und stopfte sich mit Bonbons voll. Diese Virginie aber hat mir erzählt, sie sei sieben, das haut also nicht hin. Und die andere hatte auch eine schrille Stimme, während diese hier leise, ruhig, … in einer irgendwie gleichgültigen Weise spricht.
    Wenn dieses Mädchen den Mörder gesehen hat, muß man etwas unternehmen. Aber was? Ich bin nun wirklich nicht in der Lage, die Polizei zu verständigen. Und selbst wenn es mir durch ein Wunder gelänge, was sollte ich ihnen erzählen? Daß sie nach einem sieben Jahre alten Mädchen namens Virginie suchen sollen, von der ich nicht einmal weiß, ob sie hier oder in den »Wohnanlagen« am Wald lebt?
    Auch wenn ich es kaum aushalte, mir bleibt nichts anderes übrig, als bis nächsten Samstag zu warten.

2
    Heute ist der große Tag. Ich bin sehr früh aufgewacht. Das weiß ich, weil ich lange warten mußte, bis Yvette kam, mich aufrichtete, mich wusch, mir die Bettschüssel unterschob, mich anzog. Glücklicherweise habe ich meine Blase mehr oder weniger unter Kontrolle. Das beruhigt mich und läßt mich hoffen, daß ich eines Tages wieder selbständiger sein werde. Ich wäre zufrieden, wenn ich die Arme bewegen, den Kopf schütteln, lächeln könnte. Schade um den Sex. Schade ums Sprechen. Aber sehen können. Wieder sehen, mit den anderen kommunizieren können. Warum schenkt mir niemand einen Stimmcomputer? Weil ich weder reich noch berühmt oder genial bin; man muß sich mit den Gegebenheiten abfinden.
    Das Bett ist mit einer Spezial-Vorrichtung ausgestattet, die es Yvette ermöglicht, mich in den Rollstuhl hinübergleiten zu lassen. Und schon sitze ich. Wenn wir außer Haus gehen, zieht sie mich an, eine mühsame Prozedur. Ein T-Shirt, das sich am Rücken ständig verwurstelt. Ein Rock und darüber eine Decke. Sie setzt mir die obligate Brille auf und bindet mir einen Schal um den Hals, weil, wie sie mir erzählt, draußen ein kühler Wind wehe. Ich schwitze mich zu Tode. Wir brechen auf. Glücklicherweise ist das Haus ebenerdig. Das sind die kleinen Details, die mich davor bewahrt haben, in einem Pflegeheim untergebracht zu werden. Das und das Geld, das mein Onkel für das Kino bekommen hat. Er hat es an meiner Stelle weitergeführt.
    Ich erinnere mich an seinen Besuch Ende Januar. Er legte seine Hand auf meine Schulter und sagte mit einer Stimme, die er immer in ernsten Situationen anschlägt: »Hör mal, mein Mädchen, ich habe lange nachgedacht. Du brauchst Geld und du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert. Ich habe beschlossen, das Kino zu verkaufen. Ich bin sicher, daß das auch in Louis’ Sinn wäre. (Louis ist mein verstorbener Vater, der das Kino gegründet hat.) Ich weiß, wie sehr du daran hängst. Aber ein Kino kann man wieder zurückkaufen. Deine Beine nicht. Du mußt alles daransetzen, wieder gesund zu werden. Und das wird teuer. Ich will, daß du die beste Behandlung bekommst. Das Beste vom besten. Den besten Rollstuhl, all das. Verstehst du? Also, ich hab’s verkauft. An Jean Bosquet.« Ich war so wütend. Ausgerechnet Bosquet! Dieser Scheißkerl, der im Jaguar durch die Gegend fährt und in den Siebzigern mit Pornos ein Vermögen gemacht hat. Er hat die schmuddeligsten und ältesten Kinosäle in der Gegend. Was wird er aus meinem Trianon machen?
    Der Rollstuhl holpert über den Bürgersteig und reißt mich aus meinen Erinnerungen. Yvette redet pausenlos, kommentiert alles, was sie sieht: Den neuen Regenmantel von Madame Berger, der Lehrerin, die nicht so lange Sachen tragen sollte. So wirkt sie fast wie eine Tonne. Die wirklich ungünstige Frisur der armen, kleinen Sonia, die glaubt, nur weil sie ein Kosmetikdiplom habe, könne sie sich wie ein Starlet aufführen, usw., usw.
    Doch was sie dann sagt, erregt meine Aufmerksamkeit.
    »Oh! Da ist die bedauernswerte Madame Massenet, die Mutter des armen kleinen Michael, Sie erinnern sich sicher an den kleinen Michael, den man letzten Samstag im Wald gefunden hat, ein kleiner blondgelockter Junge, immer höflich … Wie traurig sie aussieht! Und die dunklen Ringe unter ihren Augen! Wie tapfer von
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