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Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
Autoren: Patrick Modiano
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schroffe Stimme, die sich anhörte wie eine automatische Zeitansage: »Autowerkstatt La Fontaine … Was kann ich für Sie tun?« Ich habe nach Jacqueline Delanque gefragt. »Die ist momentan nicht hier … Wollen Sie eine Nachricht hinterlassen?« Ich war versucht aufzulegen, zwang mich aber zu der Antwort: »Nein, keine Nachricht. Danke.«
    Vor allen Dingen, mit größtmöglicher Genauigkeit die Routen bestimmen, auf denen die Leute sich bewegen, um sie besser zu verstehen. Leise sagte ich vor mich hin: »Hotel in der Rue Cels. Autowerkstatt La Fontaine. Café Condé. Louki.« Und dann noch jener Teil von Neuilly zwischen Bois de Boulogne und Seine, wo der Typ mich hinbestellt hatte, um mir von seiner Frau zu erzählen, der besagten Jacqueline Choureau, geborene Delanque.
    Ich habe vergessen, wer ihm den Rat gegeben hatte, sich an mich zu wenden. Egal. Wahrscheinlich hatte er mich im Adressbuch gefunden. Ich hatte eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit die Metro genommen. Direkte Verbindung. Ich war in Les Sablons ausgestiegen und fast eine halbe Stunde lang durch die Gegend marschiert. Ich hatte die Angewohnheit, das Gelände zu erkunden, ohne gleich zum Kern der Sache zu kommen. Früher einmal warf Blémant mir das vor und meinte, ich würde meine Zeit vergeuden. Ins Wasser springen, pflegte er zu sagen, und nicht ums Schwimmbecken schleichen. Ich hielt das Gegenteil für richtig. Keine Hektik, sondern Passivität und Langsamkeit, so konnte man die Atmosphäre der Örtlichkeiten sachte auf sich einwirken lassen.
    Die Luft roch nach Herbst und nach Feldern. Ich schlenderte die Avenue am Jardin d’Acclimatation entlang, jedoch links, auf der Seite von Wald und Reitweg, und ich hätte gern nichts anderes gemacht als spazierengehen.
    Dieser Jean-Pierre Choureau hatte mich angerufen und mit tonloser Stimme einen Termin verabredet. Er hatte mir bloß zu verstehen gegeben, dass es um seine Frau ging. Während ich mich seinem Haus näherte, sah ich ihn neben dem Reitweg einhergehen, ganz so wie ich, vorbei an den Reitanlagen des Jardin d’Acclimatation. Wie alt war er? Seine Stimme hatte jugendlich geklungen, aber Stimmen sind trügerisch.
    In welches Ehedrama, in welche Hölle würde er mich hineinziehen? Ich fühlte mich immer mutloser werden und war nicht mehr sicher, ob ich zu diesem Termin gehen wollte. Ich stapfte durch den Bois in Richtung Mare Saint-James und zu dem kleinen See, wo sich im Winter die Eisläufer tummeln. Ich war der einzige Spaziergänger und hatte den Eindruck, fern von Paris zu sein, irgendwo in der Sologne. Wieder einmal gelang es mir, die Mutlosigkeit zu bezwingen. Eine unbestimmte professionelle Neugier ließ mich meinen Spaziergang quer durch den Wald abbrechen und zurückkehren an den Saum von Neuilly. Die Sologne. Neuilly. Ich malte mir lange verregnete Nachmittage aus für diese Choureaus in Neuilly. Und da unten, in der Sologne, hörte man Jagdhörner in der Abenddämmerung. Ritt seine Frau im Damensitz? Ich musste laut auflachen, weil mir eine Bemerkung von Blémant einfiel: »Sie, Caisley, Sie kommen zu schnell auf Touren. Sie hätten Romane schreiben sollen.«
    Er wohnte ganz am anderen Ende, an der Porte de Madrid, in einem modernen Gebäude mit großer verglaster Eingangshalle. Er hatte mir gesagt, ich solle nach hinten gehen und mich links halten. Ich würde seinen Namen an der Tür sehen. »Es ist eine Wohnung im Erdgeschoss.« Mich hatte die Traurigkeit überrascht, mit der er das Wort »Erdgeschoss« aussprach. Danach langes Schweigen, als bereute er dieses Eingeständnis.
    »Und die genaue Adresse?« hatte ich gefragt.
    »Nr. 11, Avenue de Bretteville. Haben Sie richtig notiert? Nr. 11 … Um vier Uhr, passt Ihnen das?«
    Seine Stimme war fester geworden, sie hatte fast schon einen mondänen Klang.
    Ein kleines goldenes Schild an der Tür: Jean-Pierre Choureau, darunter bemerkte ich ein Guckloch. Ich habe geläutet. Ich wartete. In dieser stillen, verlassenen Eingangshalle sagte ich mir, dass ich zu spät kam. Er hatte sich umgebracht. Ich schämte mich eines solchen Gedankens, und von neuem der Wunsch, alles hinzuwerfen, diese Halle zu verlassen und meinen Spaziergang an der freien Luft fortzusetzen, in der Sologne … Ich habe wieder geläutet, dreimal kurz hintereinander. Die Tür öffnete sich sofort, als hätte er dahinter gestanden und mich beobachtet, durch das Guckloch.
    Ein Brünetter um die Vierzig, kurzgeschnittenes Haar, überdurchschnittlich groß. Er trug
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