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Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
Autoren: Patrick Modiano
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Unterwelt. Der Regen wurde heftiger, ein Monsunregen, aber für die anderen war das nicht schlimm, denn sie wohnten alle im Viertel. Bald standen nur noch Louki, Maurice Raphaël und ich unter dem Türvorbau. »Soll ich Sie im Auto nach Hause fahren?« hat Maurice Raphaël angeboten. Wir rannten im Regen bis zum unteren Ende der Straße, wo sein Auto geparkt war, ein alter schwarzer Ford. Louki nahm neben ihm Platz und ich auf der Rückbank. »Wen soll ich zuerst absetzen?« hat Maurice Raphaël gefragt. Louki nannte ihm ihre Straße und erklärte noch, das sei jenseits des Friedhofs Montparnasse. »Dann wohnen Sie ja im Limbus«, sagte er. Und ich glaube, keiner von uns, weder sie noch ich, hat verstanden, was »Limbus« bedeutete. Ich habe ihn gebeten, mich ein gutes Stück hinter der Einfriedung des Jardin du Luxembourg abzusetzen, an der Ecke Rue du Val-de-Grâce. Ich wollte nicht, dass er wusste, wo genau ich wohnte, aus Furcht, er könnte mir Fragen stellen.
    Ich habe Louki und Maurice Raphaël die Hand gedrückt und mir gesagt, dass keiner von beiden meinen Vornamen kannte. Ich war ein sehr unauffälliger Gast im Condé und hielt mich immer ein wenig abseits, begnügte mich mit Zuhören. Und mehr brauchte ich nicht. Ich fühlte mich wohl unter ihnen. Le Condé war für mich ein Hort gegen alles, was ich auf mich zukommen sah vom Grau-in-Grau des Lebens. Einen Teil meiner selbst – den besten – würde ich dort eines Tages zurücklassen müssen.
    »Sie tun gut daran, im Viertel ums Val-de-Grâce zu wohnen«, hat Maurice Raphaël zu mir gesagt.
    Er lächelte mich an, und dieses Lächeln schien Freundlichkeit auszudrücken und zugleich Ironie.
    »Bis bald«, hat Louki gesagt.
    Ich bin ausgestiegen und habe gewartet, bis das Auto hinter der Metrostation Port-Royal verschwand, dann bin ich umgekehrt. In Wahrheit wohnte ich nicht im Viertel ums Val-de-Grâce, sondern ein bisschen weiter unten, im Haus Nr. 85, am Boulevard Saint-Michel, wo ich unmittelbar nach meiner Ankunft in Paris, wie durch ein Wunder, ein Zimmer gefunden hatte. Durchs Fenster sah ich die schwarze Fassade meiner Schule. In jener Nacht konnte ich meinen Blick nicht losreißen von dieser monumentalen Fassade und der großen steinernen Eingangstreppe. Was würden sie denken, wenn sie wüssten, dass ich fast jeden Tag über diese Treppe ging und an der Hochschule für Bergbau und Hüttenwesen studierte? Wussten Zacharias, La Houpa, Ali Cherif oder Don Carlos eigentlich, was die Bergakademie war? Ich musste mein Geheimnis wahren, sonst würden sie sich vielleicht lustig machen oder mir misstrauen. Was bedeutete für Adamov, Larronde oder Maurice Raphaël die Bergakademie? Nichts, wahrscheinlich. Sie würden mir raten, keinen Fuß mehr an diesen Ort zu setzen. Wenn ich viel Zeit im Condé verbrachte, dann wohl, weil ich hoffte, irgendwer möge mir einen solchen Rat geben, ein für allemal. Louki und Maurice Raphaël waren bestimmt schon auf der anderen Seite des Friedhofs Montparnasse angekommen, in jener Zone, die er »Limbus« nannte. Und ich, ich stand im Dunkel am Fenster und starrte auf die schwarze Fassade. Sie hätte zum stillgelegten Bahnhof einer Provinzstadt gehören können. An den Mauern des Nachbargebäudes hatte ich Einschusslöcher entdeckt, als wäre hier jemand umgebracht worden. Leise wiederholte ich die vier Worte, die mir immer bizarrer vorkamen: ÉCOLE SUPÉRIEURE DES MINES.

Ich hatte Glück, dass der junge Mann im Condé mein Tischnachbar war und wir auf so ungezwungene Art ins Gespräch kamen. Ich war zum ersten Mal in diesem Lokal und hätte vom Alter her sein Vater sein können. Das Heft, in dem er Tag für Tag, Nacht für Nacht seit drei Jahren die Gäste des Condé verzeichnete, hat mir die Arbeit erleichtert. Es tut mir leid, dass ich ihm verheimlicht habe, aus welchem Grund ich Einsicht nehmen wollte in dieses Dokument, das er mir so freundlicherweise geliehen hat. Aber habe ich ihn belogen, als ich sagte, ich sei Kunstbuchverleger?
    Mir war schon klar, dass er mir glaubte. Das ist eben der Vorteil, zwanzig Jahre älter zu sein als die anderen: sie wissen nichts über deine Vergangenheit. Und selbst wenn sie dir ein paar zerstreute Fragen stellen über dein bisheriges Leben, kannst du alles erfinden. Ein neues Leben. Sie werden nichts überprüfen. Und während du erzählst von diesem ausgedachten Leben, weht ein Schwall frischer Luft durch einen engen Raum, wo du seit langem zu ersticken drohtest. Ein Fenster geht
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