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Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
Autoren: Patrick Modiano
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Bowing zeichnete unsere Wege bis zum Condé auf große Pariser Stadtpläne und gebrauchte dafür verschiedenfarbige Kugelschreiber. Vielleicht wollte er wissen, ob Aussicht bestand, dass wir einander begegneten, noch bevor wir ans Ziel kamen.
    Ja, ich erinnere mich, Louki eines Tages getroffen zu haben, in einem Viertel, das ich nicht kannte und wo ich einen entfernten Cousin meiner Eltern besucht hatte. Ich trat aus dem Haus und ging in Richtung Metrostation Porte-Maillot, und da sind wir uns begegnet, ganz am Ende der Avenue de la Grande-Armée. Ich habe sie angestarrt, und auch sie hat mich mit einem ängstlichen Blick gemustert, als hätte ich sie in einer peinlichen Lage ertappt. Ich habe ihr die Hand hingestreckt: »Wir haben uns schon mal im Condé gesehen«, sagte ich, und dieses Café lag für mich plötzlich wie am anderen Ende der Welt. Sie hat verlegen gelächelt: »Ja, sicher … im Condé …« Das muss kurz nach ihrem ersten Auftauchen gewesen sein. Sie hatte sich noch nicht unter die anderen gemischt, und Zacharias hatte sie noch nicht Louki getauft. »Komisches Café, hm, Le Condé …« Sie nickte zustimmend. Wir sind noch ein Stückchen zusammen weitergeschlendert, und sie hat gesagt, sie wohne hier in der Gegend, möge dieses Viertel aber kein bisschen. Wie dumm, an diesem Tag hätte ich ihren richtigen Vornamen erfahren können. Dann haben wir uns an der Porte Maillot verabschiedet, vor dem Metroeingang, und ich habe ihr nachgeschaut, wie sie fortging in Richtung Neuilly und Bois de Boulogne, mit immer langsameren Schritten, als wollte sie noch irgendwem Gelegenheit geben, sie aufzuhalten. Ich dachte, sie würde nicht mehr ins Condé kommen und ich würde nie wieder von ihr hören. Sie würde verschwinden in dem, was Bowing »die Anonymität der Großstadt« nannte und wogegen er ankämpfen wollte, indem er die Seiten seines Heftes mit Namen füllte. Ein Clairefontaine-Heft von hundertneunzig Seiten mit rotem, laminierten Einband. Offen gestanden bringt es nicht viel. Wenn man in diesem Heft blättert, erfährt man außer Namen und flüchtigen Adressen überhaupt nichts von all diesen Personen oder von mir. Wahrscheinlich meinte der Capitaine, es reiche allemal, dass er uns benannt und irgendwo »fixiert« hatte. Und alles übrige … Im Condé stellten wir einander nie Fragen über unsere Herkunft. Wir waren zu jung, wir hatten keine Vergangenheit, die man hätte aufdecken können, wir lebten in der Gegenwart. Selbst die älteren Gäste, Adamov, Babilée oder Doktor Vala, verloren nie ein Wort über ihre Vergangenheit. Sie begnügten sich damit, hier zu sein, unter uns. Erst heute, nach all der Zeit, spüre ich ein Bedauern: Ich wünschte, Bowing hätte in seinem Heft genauere Angaben gemacht und über jeden eine kleine biographische Notiz verfasst. Glaubte er wirklich, ein Name und eine Adresse genügten, später einmal, um den Faden eines Lebens wiederzufinden? Noch dazu ein bloßer Vorname, der nicht einmal der richtige ist? »Louki. Montag, 12. Februar, 23 Uhr.« »Louki. 28. April, 14 Uhr.« Er vermerkte auch die Plätze, an denen die Gäste tagaus, tagein rund um die Tische saßen. Manchmal gibt es weder Namen noch Vornamen. Dreimal hat er im Juni jenes Jahres notiert: »Louki mit dem Brünetten in der Wildlederjacke.« Er hat ihn nicht nach seinem Namen gefragt, oder der Kerl hat ihm die Antwort verweigert. Offenbar war dieser Typ kein Stammgast. Der Brünette in der Wildlederjacke ist für alle Ewigkeit in den Straßen von Paris verschwunden, und Bowing konnte seinen Schatten nur ein paar Sekunden fixieren. Und dann gibt es auch Ungenauigkeiten in seinem Heft. Ich habe schließlich Bezugspunkte hergestellt, die mich in der Überzeugung bestärken, dass sie nicht im Januar zum ersten Mal ins Condé gekommen ist, wie Bowing glauben macht. Ich erinnere mich an sie lange vor diesem Datum. Der Capitaine erwähnt sie erst ab dem Moment, als die anderen sie Louki getauft haben, und ich vermute, dass er ihre Anwesenheit bis dahin nicht wahrgenommen hatte. Sie bekam nicht einmal eine blasse Notiz von der Art »14 Uhr. Eine Brünette mit grünen Augen«, wie der Brünette in der Wildlederjacke.
    Im Oktober des Vorjahres war sie aufgetaucht. Ich habe im Heft des Capitaine einen Bezugspunkt entdeckt: »15. Oktober. Geburtstag von Zacharias. An seinem Tisch: Annet, Don Carlos, Mireille, La Houpa, Fred, Adamov.« Ich erinnere mich bestens. Sie saß an ihrem Tisch. Weshalb war Bowing nicht so neugierig
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