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Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
Autoren: Patrick Modiano
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und hat sie nach ihrem Namen gefragt? Die Beweise sind wacklig und widersprüchlich, doch ich bin mir ihrer Anwesenheit an jenem Abend vollkommen gewiss. All das, was sie für Bowings Blick unsichtbar machte, war mir aufgefallen. Ihre Schüchternheit, ihre langsamen Bewegungen, ihr Lächeln und vor allem ihr Schweigen. Sie saß neben Adamov. Vielleicht war sie seinetwegen ins Condé gekommen. Ich war Adamov häufig im Odéon-Viertel begegnet und ein Stück weiter, im Umkreis von Saint-Julien-le-Pauvre. Jedesmal lag seine Hand auf der Schulter eines Mädchens. Ein Blinder, der sich führen lässt. Und doch schien er alles zu beobachten, mit seinem tragischen Hundeblick. Und jedesmal war es, wie mir damals vorkam, ein anderes Mädchen, das ihm als Führerin diente. Oder als Krankenschwester. Warum also nicht sie? Ja, und in jener Nacht hat sie das Condé auch wirklich mit Adamov verlassen. Ich habe die beiden gesehen, als sie auf der menschenleeren Straße in Richtung Odéon liefen, Adamov die Hand auf ihrer Schulter und mit seinem Automatenschritt. Man hätte glauben können, sie habe Angst, zu schnell zu gehen, und manchmal blieb sie kurz stehen, als wollte sie ihm Gelegenheit geben zu verschnaufen. Am Carrefour de l’Odéon hat Adamov ihr etwas zeremoniös die Hand geschüttelt, dann ist sie im Metroeingang verschwunden. Er hat seinen nachtwandlerischen Gang fortgesetzt, zielstrebig in Richtung Saint-André-des-Arts. Und sie? Ja, vom Herbst an kam sie regelmäßig ins Condé. Und das war bestimmt kein Zufall. Für mich ist der Herbst nie eine traurige Jahreszeit gewesen. Das welke Laub und die kürzer werdenden Tage haben mir nie das Ende von irgendwas bedeutet, vielmehr ein Warten auf die Zukunft. Die Luft ist elektrisch aufgeladen in Paris, an Oktoberabenden, wenn die Nacht herabsinkt. Sogar bei Regenwetter. Ich bin nie trübselig um diese Stunde, leide auch nicht unter der flüchtigen Zeit. Ich habe ein Gefühl, als sei alles möglich. Das Jahr beginnt im Oktober. Dann ist Schulanfang, und ich glaube, auch der richtige Moment zum Pläneschmieden. Wenn sie also im Oktober ins Condé gekommen ist, dann hatte sie mit einem Teil ihres Lebens Schluss gemacht und wollte, wie es in Romanen heißt, DIE ALTE HAUT ABSTREIFEN. Außerdem sagt mir ein kleiner Hinweis, dass ich mich bestimmt nicht irre. Im Condé hat man ihr einen neuen Vornamen gegeben. Und Zacharias hat an jenem Tag sogar von Taufe gesprochen. Eine zweite Geburt, in gewisser Weise.
    Was den Brünetten in der Wildlederjacke angeht, so ist er leider nicht auf den im Condé gemachten Fotos zu sehen. Das ist schade. Oft kann man jemanden dank eines Fotos identifizieren. Man veröffentlicht es in einer Zeitung und bittet mögliche Zeugen, sich zu melden. Handelte es sich um ein Gruppenmitglied, das Bowing nicht kannte, und war er zu bequem gewesen, den Namen zu erfragen?
    Gestern abend habe ich das Heft von vorn bis hinten aufmerksam durchgeblättert. »Louki mit dem Brünetten in der Wildlederjacke.« Und zu meiner großen Überraschung habe ich festgestellt, dass der Capitaine diesen Unbekannten nicht bloß im Juni erwähnte. Am Ende einer Seite steht hastig hingekritzelt: »24. Mai. Louki mit dem Brünetten in der Wildlederjacke.« Und derselbe Satz findet sich noch zweimal im April. Ich hatte Bowing gefragt, warum er jedesmal, wenn von ihr die Rede war, den Vornamen blau unterstrichen hatte, so als wollte er sie von den anderen unterscheiden. Nein, nicht er hatte das gemacht. Eines Tages, als er am Tresen stand und die anwesenden Gäste in sein Heft schrieb, hatte ein Mann neben ihm zufällig einen Blick auf seine Arbeit geworfen: ein Typ so um die Vierzig, der Doktor Vala kannte. Er sprach mit leiser Stimme und rauchte Zigaretten aus hellem Tabak. Bowing hatte Zutrauen gefasst und ein paar Worte verloren über das, was er sein Goldenes Buch nannte. Der andere hatte interessiert gewirkt. Er sei »Kunstbuchverleger«. Ja, natürlich, er kenne den Mann, der vor einiger Zeit die Fotos im Condé gemacht hatte. Er beabsichtige, einen Band zu veröffentlichen mit dem Titel: Ein Café in Paris . Ob er so freundlich wäre, ihm bis zum nächsten Tag sein Heft zu leihen, es könne ihm helfen, Bildunterschriften zu finden. Am nächsten Tag hatte er Bowing das Heft zurückgebracht und war nie wieder im Condé aufgetaucht. Es hatte den Capitaine überrascht, dass der Vorname Louki jedesmal blau unterstrichen war. Er war neugierig geworden und wollte Doktor Vala ein paar
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