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Ilium

Titel: Ilium
Autoren: Dan Simmons
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der Aufgabe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gewachsen war. Meine war es jedenfalls nicht. Die Wirklichkeit ist viel wunderbarer und schrecklicher, als sie uns selbst der blinde Dichter zeigen wollte.
    Zuallererst ist da die Stadt, Ilium, Troja, eine der großen bewaffneten Poleis der Antike – mehr als drei Kilometer von dem Strand entfernt, auf dem ich jetzt stehe, aber dennoch gut sichtbar auf ihrer Anhöhe, schön und gebieterisch, die hohen Mauern von Tausenden von Fackeln und Feuern erhellt, die Türme nicht ganz so unermesslich hoch, wie Marlowe uns glauben machen wollte, aber immer noch Staunen erregend – hoch, rund, fremdartig, imposant.
    Dann sind da die Achäer, Danaer und die anderen Invasoren – genau genommen noch keine »Griechen«, weil diese Nation erst in über zweitausend Jahren entstehen wird, aber ich werde sie trotzdem Griechen nennen –, die sich kilometerweit hier an der Küste ausgebreitet haben. In meinen Ilias- Seminaren habe ich den Studenten erklärt, der trojanische Krieg sei trotz seines homerischen Ruhms in Wirklichkeit wahrscheinlich nur ein kleines Scharmützel gewesen – ein paar tausend griechische Krieger gegen ein paar tausend Trojaner. Selbst die kenntnisreichsten Mitglieder der Scholia – jener seit fast zweitausend Jahren existierenden Gruppe von Ilias- Forschern – haben auf Grundlage des Versepos geschätzt, dass nicht mehr als 50.000 Achäer und andere griechische Krieger in ihren schwarzen Schiffen an der Küste aufgezogen sind.
    Sie haben sich geirrt. Neuesten Schätzungen zufolge sind es mehr als 250.000 griechische Angreifer und ungefähr halb so viele Verteidiger Trojas, einschließlich ihrer Verbündeten. Offenbar ist jeder Kriegsheld der griechischen Inseln zu dieser Schlacht herbeigeeilt – eine Schlacht ist nämlich gleichbedeutend mit Plünderung – und hat seine Soldaten, Verbündeten, Gefolgsleute, Sklaven und Konkubinen mitgebracht.
    Es ist ein fantastischer Anblick: Kilometer um Kilometer erleuchteter Zelte, Lagerfeuer und Verteidigungsanlagen aus angespitzten Pfählen, dazu lange Gräben im harten Boden oberhalb der Strände – nicht um sich darin zu verstecken und niederzukauern, sondern zur Abschreckung der trojanischen Kavallerie –, und das Licht, das diese kilometerlange Ansammlung von Zelten und Männern beleuchtet und auf polierte Lanzen und glänzende Schilde fällt, stammt von Tausenden hell lodernder Freudenfeuer, Kochfeuer und Scheiterhaufen.
    Scheiterhaufen.
    In den letzten paar Wochen hat sich eine schleichende Seuche in den Reihen der Griechen ausgebreitet. Ihre ersten Opfer waren Esel und Hunde, dann hat sie hier einen Soldaten und dort einen Diener zu Fall gebracht, bis sie sich in den vergangenen zehn Tagen schließlich zu einer Epidemie ausgewachsen hat, die mehr achäische und danaische Helden getötet hat als die Verteidiger Iliums seit Monaten. Ich nehme an, es ist Typhus. Die Griechen sind davon überzeugt, dass es Apollos Zorn ist.
    Ich habe Apollo von weitem gesehen, sowohl auf dem Olymp als auch hier. Er ist ein ganz übler Bursche. Apollo ist der Gott der Bogenschützen, der Herr des silbernen Bogens, »der Fernhintreffer«, und obwohl er der Gott der Heilung ist, ist er auch der Gott der Krankheit. Mehr noch, er ist der oberste göttliche Verbündete der Trojaner in dieser Schlacht, und wenn es nach Apollo ginge, würden die Achäer ausgelöscht. Ob die Typhusepidemie nun von den leichenverseuchten Flüssen und anderem vergiftetem Wasser ausgelöst wurde oder von Apollos silbernem Bogen, die Griechen glauben zu Recht, dass er ihnen Böses will.
    In diesem Augenblick finden sich die »Fürsten und Könige« der Achäer – und jeder dieser griechischen Helden ist in seiner Provinz und in seinen eigenen Augen eine Art Fürst oder König – gerade zu einer öffentlichen Versammlung bei Agamemnons Zelt ein, um darüber zu beraten, wie man dieser Seuche ein Ende bereiten kann. Ich gehe langsam, fast widerwillig dorthin. Dabei sollte diese Nacht nach meiner nunmehr über neunjährigen Wartezeit der aufregendste Moment meiner langen Tätigkeit als Kriegsbeobachter sein. Heute Nacht beginnt Homers Ilias in der Wirklichkeit.
    Oh, ich habe viele Elemente des Epos miterlebt, die Homer mit dichterischer Freiheit zeitlich anders eingeordnet hat, etwa den so genannten Schiffskatalog, jene Aufstellung und Auflistung sämtlicher griechischer Truppen aus dem zweiten Gesang der Ilias, die sich jedoch schon vor über
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