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Ilium

Titel: Ilium
Autoren: Dan Simmons
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neun Jahren beim Aufmarsch dieser Militärexpedition bei Aulis versammelt hatten, an der Meerenge zwischen Euböa und dem griechischen Festland. Oder die Epipolesis, die Heerschau, die Agamemnon im vierten Gesang von Homers Epos abhält, die ich jedoch kurz nach der Landung der Truppen hier bei Ilium stattfinden sah. Darauf folgte die Teichoskopia, wie ich sie in meinen Seminaren immer genannt habe, die »Mauerschau«, bei der Helena dem Priamos und den anderen trojanischen Führern die verschiedenen achäischen Helden zeigt. Die Teichoskopia kommt im dritten Gesang des Poems vor, ereignete sich im wahren Ablauf der Geschehnisse jedoch kurz nach der Landung und der Epipolesis.
    Sofern es hier einen wahren Ablauf der Geschehnisse gibt.
    Jedenfalls findet heute Abend jene Versammlung bei Agamemnons Zelt statt, bei der es zum Streit zwischen Agamemnon und Achilles kommt. Mit ihr beginnt die Ilias, und eigentlich sollte ich all meine Kräfte und beruflichen Fähigkeiten auf sie konzentrieren, aber in Wahrheit ist sie mir scheißegal. Sollen sie sich doch in die Brust werfen. Sollen sie sich aufplustern. Soll Achilles ruhig nach seinem Schwert greifen – nun, ich gestehe, es würde mich schon interessieren, das zu sehen. Wird Athene wirklich erscheinen, um ihn aufzuhalten, oder war sie nur eine Metapher dafür, dass Achilles wieder zur Vernunft kam? Ich habe mein Leben lang darauf gewartet, die Antwort auf eine solche Frage zu finden, und nun werde ich sie in ein paar Minuten bekommen, aber seltsamerweise ist … es … mir … definitiv … scheißegal.
    Die neun Jahre der schmerzhaften Wiedergeburt, der langsamen Rückkehr der Erinnerung, des permanenten Krieges und der unablässigen heroischen Posen, ganz zu schweigen von meiner Versklavung durch die Götter und die Muse, haben ihren Tribut gefordert. Momentan hätte ich nichts dagegen, wenn eine B-52 käme und eine Atombombe auf die Griechen und Trojaner würfe. Zur Hölle mit all diesen Helden und den Holzkähnen, in denen sie hierher geschippert sind!
    Aber ich stapfe zu Agamemnons Zelt. Das ist nun mal mein Job. Wenn ich es versäume, die Szene zu beobachten und der Muse davon zu berichten, heißt das nicht, dass ich meine Stelle verliere. Nein, die Götter werden mich in die Knochensplitter und die staubige DNA verwandeln, aus denen sie mich wieder erschaffen haben, und das war’s dann, wie man so sagt.
     

2
Ardis Hills, Ardis Hall
    Daeman materialisierte in dem Faxportal in der Nähe von Adas Haus und blinzelte benommen in die rote Sonne am Horizont. Der Himmel war wolkenlos, und das untergehende Tagesgestirn brannte zwischen den hohen Bäumen auf der Kammlinie und brachte den P-Ring und den Ä-Ring, die sich am kobaltblauen Himmel drehten, zum Leuchten. Daeman war desorientiert, weil es hier Abend war; dabei war er erst vor ein paar Sekunden von Tobis Zweiter-Zwanziger-Party in Ulanbat weggefaxt, wo es früher Vormittag war. Sein letzter Besuch bei Ada lag Jahre zurück, und außer bei jenen Freunden, die er sehr regelmäßig besuchte – Sedman in Paris, Ono in Bellinbad, Risir in ihrem Haus auf den Klippen von Chom sowie ein paar andere –, wusste er nie, auf welchem Kontinent oder in welcher Zeitzone er sich wieder finden würde. Aber er kannte die Namen und die Lage der Kontinente ohnehin nicht, geschweige denn die Konzepte geografischer oder chronometrischer Zonen, sodass ihm seine Unwissenheit nichts ausmachte.
    Es war trotzdem verwirrend. Er hatte einen Tag verloren. Oder gewonnen? Jedenfalls roch die Luft hier anders – feuchter, würziger, wilder.
    Daeman schaute sich um. Er stand in der Mitte eines ganz normalen Faxknoten-Feldes – der übliche Kreis aus Permbeton und eleganten Eisenpfosten mit einer gelben Glaspergola darüber, und am Pfosten in der Nähe des Kreismittelpunkts befand sich das unvermeidliche kodierte Zeichen, das er nicht lesen konnte. In dem Tal war kein anderes Bauwerk zu sehen, nur Gras, Bäume, ein Fluss in der Ferne und die langsame Drehung der beiden Ringe, die wie die Räder eines riesigen, langsamen Gyroskops über ihn wegzogen.
    Es war ein warmer Abend, feuchter als in Ulanbat, und das Faxpad lag mitten auf einer grünen Wiese, die von niedrigen Hügeln umgeben war. Sechs Meter von dem kreisrunden Feld entfernt stand eine uralte einrädrige, offene Zweierkarriole; ein ebenso alter Servitor schwebte über der Fahrernische, und ein einzelner Voynix stand zwischen den hölzernen Deichseln. Es war über zehn Jahre her,
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