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Ihr wahrer Name

Ihr wahrer Name

Titel: Ihr wahrer Name
Autoren: Sara Paretsky
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Sommers wohl sagen, wenn sie Max von seinem Leben in der Zeit der Machtübernahme durch die Nazis erzählen hörte, davon, daß er die Schule nicht mehr besuchen durfte und mit ansehen mußte, wie sein Vater gezwungen wurde, sich nackt auf die Straße zu knien? Hatte Lotty vielleicht doch recht, und sein Vortrag wäre eine Erniedrigung für ihn, die nichts bezweckte? Würde er die Margaret Sommers' dieser Welt lehren, sich der Gedankenlosigkeit ihrer Vorurteile bewußt zu werden? Ich war nur ein paar Häuserblocks südlich vom Haus der Sommers' aufgewachsen, inmitten von Leuten, die keine gute Meinung von Margaret Sommers gehabt hätten, wenn sie ihre Nachbarin geworden wäre. Und wenn sie dann die rassistischen Schmähungen wiederholt hätte, mit denen sie vermutlich groß geworden war, wären meine alten Nachbarn höchstwahrscheinlich nicht bereit gewesen, diese Meinung zu ändern.
    Mittlerweile war ich bei meinem Wagen angekommen und versuchte, mich vor der langen Fahrt nach Norden ein wenig zu strecken. Die Vorhänge im vorderen Fenster des Sommers-Hauses bewegten sich. Ich stieg in meinen Mustang. Es war September, und als ich die Route 41 in nördlicher Richtung nahm, leuchteten nur noch die letzten Sonnenstrahlen am Horizont.
    Warum blieben Menschen zusammen, wenn sie unglücklich miteinander waren? Bei meinen Eltern hatte ich auch nicht das Idealbild echter Liebe erlebt, aber immerhin hatte meine Mutter sich bemüht, für häusliche Harmonie zu sorgen. Sie hatte meinen Vater aus Dankbarkeit geheiratet und auch aus Angst, denn sie war seinerzeit gerade erst ins Land gekommen, ganz allein in der Stadt, und hatte kein Englisch gekonnt. Mein Vater, ein einfacher Streifenpolizist, hatte sie in einer Bar an der Milwaukee Avenue gerettet, in der sie geglaubt hatte, aufgrund ihrer Opernausbildung einen Job als Sängerin zu bekommen. Er hatte sich in sie verliebt, und das hatte sich meines Wissens auch nie geändert. Sie war ihm gegenüber stets liebevoll, aber soweit ich das beurteilen konnte, galt ihre wahre Leidenschaft immer nur mir.
    Zum Zeitpunkt ihres Todes war ich erst sechzehn. Was weiß man in dem Alter schon über seine Eltern?
    Und was war mit dem Onkel meines Klienten? Isaiah Sommers war sich sicher, daß sein Onkel seiner Tante Bescheid gesagt hätte, wenn er sich die Versicherung hätte ausbezahlen lassen. Aber Menschen brauchen für viele Dinge Geld, manchmal für so peinliche, daß sie ihren Familien lieber nichts davon erzählen.
    Ich war so in meine Gedanken vertieft gewesen, daß ich von der Gegend, in der ich als Kind gelebt hatte, nicht viel mitbekommen hatte. Nun befand ich mich schon auf der Höhe der Route 41, wo sie achtspurig am Ufer des Lake Michigan entlangführt. Mittlerweile war der Himmel ganz dunkel, und der See schimmerte schwarz wie Tinte.
    Wenigstens hatte ich einen Geliebten, zu dem ich gehen konnte, wenn auch nur noch ein paar Tage: Morrell, mit dem ich seit einem Jahr zusammen war, wollte am Dienstag nach Afghanistan fliegen. Als Journalist, der sich häufig mit Menschenrechtsfragen beschäftigt, hatte er sich seit der Machtübernahme durch die Taliban ein paar Jahre zuvor gewünscht, die Situation dort persönlich in Augenschein zu nehmen.
    Die Vorstellung, mich schon bald in seinen Armen zu ent spannen, ließ mich schneller fahren, das lange dunkle Band des South Lake Shore Drive entlang, vorbei an den hellen Lichtern des Loop in Richtung Evanston.

3
    Was sagt ein Name schon?
    Morrell begrüßte mich an der Tür mit einem Kuß und einem Glas Wein. »Na, wie ist's gelaufen, Mary Poppins?«
    »Mary Poppins?« wiederholte ich verständnislos, dann fiel mir Calia wieder ein. »Ach so, das. Es war einfach toll. Leute, die glauben, Kinderfrauen kriegen zuwenig Geld, wissen bloß nicht, wieviel Spaß der Job macht.«
    Ich folgte ihm in die Wohnung und mußte ein Stöhnen unterdrücken, als ich auf dem Sofa seinen Lektor sitzen sah. Nicht, daß ich etwas gegen Don Strzepek gehabt hätte, aber lieber wäre mir ein Abend gewesen, an dem sich mein Beitrag zum Gespräch auf ein Brummen hin und wieder hätte beschränken können.
    »Don!« rief ich aus, als er aufstand und mir die Hand zum Gruß entgegenstreckte. »Morrell hat mir gar nicht gesagt, daß ich die Freude haben würde, dich hier zu sehen. Ich dachte, du bist in Spanien.«
    »Ja, war ich auch.« Er klopfte auf der Suche nach Zigaretten auf seine Hemdtasche, doch als ihm einfiel, daß er sich in einer Nichtraucherwohnung befand,
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