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Idylle der Hyänen

Idylle der Hyänen

Titel: Idylle der Hyänen
Autoren: Friedrich Ani
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Mittelalter, sich umzubringen.«
    »Es ist nicht mehr verboten«, sagte Fischer.
    »Aber die Gesellschaft erträgt Selbstmörder schwer. Sie sind wie ein Spiegel, wir erkennen ihren Schatten und fürchten uns davor.«
    »Schonschon, aber warum? Wenn, wie du sagst, der Selbstmord ein Teil der menschlichen Natur ist?«
    Er lächelte sie an, und einen Moment lang dachte sie an etwas Bestimmtes; dann ließ sie seinen Arm los und nahm seine Hand.
    »Auch die Feigheit ist Teil der menschlichen Natur«, sagte Fischer. »Und die Lüge und die Dummheit und der Selbstbetrug.«
    »Glaubst du wirklich, daß die Nonne den Mann aufgefordert hat, sie zu töten? Und glaubst du, daß Nele Schubart sich erhängt hat?«
    »Ich war ein hörender Mönch«, sagte Fischer.
    »Wenn wir uns vor dem Gebet die Kapuze über den Kopf gezogen haben, versanken wir in einer inneren Stille. Wir beteten stumm und horchten, ob Gott uns antwortete. Das hat er getan. Wenigstens eine Zeitlang, bei mir. Und wenn du mich fragst, ob ich der Nonne glaube – vorausgesetzt, wir halten die Aussagen von Sebastian Flies und auch die ihres Vaters für wahr –, dann bejahe ich deine Frage. Ich glaube es. Ich glaube, daß Menschen zu einer Finsternis in sich vordringen können, die für andere unvorstellbar ist, und daß sie nichts sehnlicher erhoffen, als davon erlöst zu werden. Und ich glaube – auch wenn es mich anwidert, auch nur einen Teil von Jonathan Baduras Selbstverherrlichung zu bestätigen –, daß Nele Schubart, als sie gefesselt auf dem Stuhl stand und dieser Mann sie mit dem Leben ihrer Tochter konfrontierte, abgründig mutlos wurde und jede Zuversicht verlor. Auf einmal wurde ihr bewußt, was sie ihrem Kind angetan und wie gleichgültig und bösartig sie sich verhalten hat und daß sie nicht im geringsten fähig sein würde, sich zu ändern. In diesen Minuten, in dieser Stunde als Gefangene in einem Zimmer, in dem sie nie vorher war, begriff sie, wer sie ist und welches Ausmaß an Verachtung und Kälte seit jeher ihr Handeln und Empfinden bestimmt. Und ich glaube, ihr vernichtendster Gedanke galt ihrem Kind: daß sie nämlich Katinka bis zu diesem Freitag im August in keiner einzigen Sekunde verziehen hat, auf der Welt zu sein. Ich glaube, Nele Schubart hat mit ihrem Leben abgeschlossen, weil sie sich in heilloser Not eingestehen mußte, daß sie die Geburt ihres Kindes von Anfang an für ein Todesurteil und nicht für ein Geschenk gehalten hatte. Unter einer solchen Erkenntnis zerbricht jede Mutter. Und Nele Schubart erkannte den Moment und nutzte ihn.«
    »Oder der Stuhl hat gewackelt und ist umgekippt, und sie hat sich erdrosselt«, sagte Liz. »Oder der irre Badura hat den Stuhl umgestoßen, wovon wir schließlich ausgehen müssen.«
    »Ich glaube nicht, daß er töten wollte. Nur jemand, der so fundamentalistisch vom fünften Gebot überzeugt ist wie er, reagiert auf einen Selbstmord derart haßverzurrt und ichbesessen.«
    Liz schwieg lange, drückte Fischers Hand fester, ließ sie los und nahm sie wieder. »Und das alles glaubst du, weil du ein hörender Mönch gewesen bist.«
    »Wenn Gott nicht sprach, was, wie du weißt, immer häufiger passiert ist, habe ich andere Stimmen gehört. Wenn ich lange genug still bin, ist es, als brächen alle Wände, als wäre ich im Innern eines gewaltigen Murmelns, in dem unzählige Leben verhandelt werden, und ich bin gezwungen zuzuhören, und zwar auch dann noch, wenn meine Stille schon lange vorbei und der gewöhnliche Lärm zurückgekehrt ist.«
    »Ich weiß nicht«, sagte Liz und ließ seine Hand endgültig los, als brauche sie etwas Abstand von ihm, »ob ich das aushalten könnt. Das totale Stillsein und das Fürmichsein ganz allein. Ich find auch nicht, daß man sich umbringen darf. Außer vielleicht, man ist schwer krank und nichts und niemand kann einem mehr helfen. Vielleicht dann. Ich find, das Leben ist was wert und man muß es verteidigen. Immer, mit aller Macht. Weil es was Besonderes, was Einmaliges ist. Wenn ich nicht so denken würd, hätt ich gar nicht zur Polizei gehen können. Glaub ich. Und ich weiß nicht genau, ob du recht hast, daß die Möglichkeit zum Selbstmord in uns allen steckt. Und daß wir alle im Grunde Lügner sind. Kann sein. Lügen ist so leicht.«
    Sie rieb sich das Handgelenk. Dann vergrub sie die Hände hastig in den Hosentaschen. »Aber ich glaub«, fuhr sie mit leiserer Stimme fort, »ich fang langsam an, deinen Blick auf die Menschen zu begreifen, und ich
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