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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf...
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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werde mit Franck eine Partie Tennis spielen. Er findet mich
unleidlich, stellt mir aber keine Fragen. So oder so, ich könnte ihm nichts
sagen. Ihm wie den anderen. Ich habe mir geschworen, niemandem mehr etwas zu
sagen. So ist das jetzt. Ich werde mit all diesen gräßlichen Gedanken allein
leben. Nichts sagen, damit Papa nicht ärgerlich wird, daß er nicht damit droht
fortzugehen. Wenn ich’s nicht durchhalte, wenn er fortgeht, ist es mein Fehler!
Ich darf nichts verlauten lassen, nichts verlauten lassen, nichts verlauten
lassen!
    Ich mag Francks Augen, sie sind wie
Haselnüsse. Er ist größer als ich, aber uns ist das gleich, wir sind Verliebte.
Eine wirkliche Liebe. Zum Glück gibt es Franck. Er ist nett, er ist schön, er
ist sportlich, er gehört mir. Wir haben unser Geheimnis. Die Eltern können
nichts dagegen ausrichten, und sie mögen ihn gern. Papa mag Franck gern. Ich muß
alle beide behalten. Ich bin todtraurig, aber ich sterbe nicht. Ich lebe. Fühle
mich nicht wohl in meiner Haut, nicht wohl bei Tisch, nicht wohl beim
Tennisspielen, nicht wohl mit den anderen, nicht wohl mit Franck.
    Ich muß zusehen, daß ich nicht mehr allein
mit meinem Vater bin. Ich muß schlau sein. Im voraus die Stunden berechnen, wo
ich mich nicht an diesem oder jenem Ort aufhalten darf. Er ist gerissen. Er
sagt immer, gerissen wie ein Affe, dem man das Fratzenschneiden nicht
beibringen kann. Es wird also schwierig sein, ihn zu überlisten.
    Ich kann zum Beispiel öfter zu meiner
Tante Marie gehen. Sie wohnt hundert Meter vom Haus entfernt. Wenn ich nicht
mit Franck zusammen bin, werde ich schnell zu Tante Marie laufen, so gibt’s
keine Probleme. Ich darf nicht mehr allein bleiben. Das gilt für den Tag, aber
für die Nacht... Die Nacht bleibt ein Problem. Ich habe Angst, mich in einem
dunklen, lichtlosen Zimmer aufzuhalten. Ich habe sogar Angst, nachts aus dem
Fenster unseres Mietshauses zu schauen. Früher freute ich mich auf die Nacht.
Vom vierten Stock aus sieht man die Sterne, sieht man die Straße, die anderen
Häuser, das Licht hinter manchen Gardinen. Ich mochte die Nacht. Wie mein
Vater. Er ist ein Nachtschwärmer, er arbeitet und lebt in der Nacht. Mir gefiel
das. Jetzt fürchte ich mich vor der Nacht und vor allem. Ich fürchte mich vor
mir selber, vor ihm.
    Tage und Nächte vergehen in dieser
Angst. Wie viele weiß ich nicht. Heute bin ich allein mit Fred, meinem kleinen
Bruder, meinem kleinen süßen Bruder. Er ist intelligent, goldig. Ich sehe ihn
unten im Hof spielen. Alle sind arbeiten gegangen. Ich werde das Geschirr
abspülen und Tante Marie anrufen, um ihr zu sagen, daß ich nicht zu ihr komme.
Ich habe keine Lust. Ich möchte mich ausruhen. Irgendwo schlafen, ohne Angst zu
haben. Nicht in meinem verflixten Zimmer. Ich kann es nicht mehr sehen.
Jedesmal, wenn ich es betrete, habe ich wieder die scheußlichen Bilder vor
Augen. Ich werde mich auf das Bett in Freds Zimmer legen. Das ist sauber, nicht
beklemmend. Ich will ein bißchen schlafen. Ich bin ein bißchen krank, ohne zu
wissen wovon. Müde. So müde, daß ich nicht Tennis spielen kann. Franck ist eben
gekommen. Ich wäre heute lieber allein geblieben mit meinem kranken Kopf.
    Franck setzt sich auf den Boden, ich bleibe
trotzdem liegen. Zu müde. Er findet mich komisch.
    »Was hast du?«
    Das ist das Schwierige, die Fragen. Man
hat keine Ruhe, muß mit den anderen reden, auch wenn man keine Lust dazu hat.
Armer Franck.
    »Ich hab’ nichts. Ich hab’ keine Lust
zu spielen.«
    Da sind wir alle beide, er auf dem
Boden, ich auf dem Bett. Er ist weit von mir entfernt. Ich habe keine Lust zu
sprechen, vor allem nicht mit ihm. Das Lügen macht mich müde. Ich bin schon
ganz erschöpft davon, die ganze Zeit wiederholen zu müssen, daß nichts los ist.
Wo es mir doch so schlecht geht.
    Ich fühle mich nicht sicher. Obwohl es
Tag ist und mein Vater arbeitet, Mama auch, und das Haus ruhig ist. Eigentlich
müßte ich mich ausruhen können, ohne Angst zu haben. Na also, ich hatte recht.
Ich hab’s gespürt. Er ist gerade eben hereingekommen, die Eingangstür ist
zugeschlagen, ich höre seine Stimme im Flur. Er öffnet mit einem Ruck die Tür,
mit einer übertriebenen Geste — wie im Theater. Er beginnt zu brüllen,
Schimpfworte auszustoßen, so schnell und so heftig, daß ich nichts verstehe.
Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Eine Welle des Schreckens. Franck
weiß nicht mehr, was er tun soll. Er stammelt, daß mein Vater sich täuscht, wir
waren im
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