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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf...
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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er mich sicherheitshalber eingeschlossen hatte.
Erst jetzt verstehe ich all das, was Großmama mir erzählt hat. Er hat sie glatt
erpreßt, indem er sagte, er würde sich umbringen, wenn meine Mutter ihn nicht
in die neue Stadt begleiten würde, in der er arbeiten wollte. Sie hat
nachgegeben. Großmama sagte zu mir: »Was sollte sie tun, er hielt dich
gefangen, sagte, er würde sich umbringen... Außerdem hat er sie vor der ganzen
Familie geschlagen. Dieser Feigling!«
    Und ich hab’ geglaubt, daß sie dummes
Zeug redete. Daß sie etwas dazudichtete, weil sie ihn nicht ausstehen konnte.
    Ein Schuft, ein Filou und ein Feigling.
Als ich aus den Ferien zurückkam, habe ich von meinem Vater Erklärungen
gefordert für die Geschichte mit diesem Mädchen, in das er verliebt war, und
für die Scheidung. Ich wollte, daß er mir selbst erzählte, was passiert war.
Mama hatte nie darüber gesprochen. Und ich hatte ihm nichts vorzuwerfen, er war
immer nett, er schlug mich nie. Seinen Erklärungen entnahm ich, daß er in
seiner Jugend Dummheiten gemacht hatte, aber daß damit jetzt Schluß war. Alles
in Ordnung.
    Jetzt weiß ich, daß es nicht stimmt.
Ich bin zwölfeinhalb, und ich bin älter geworden, wie er sagt, und ich nenne
ihn Schuft, Filou, Dreckskerl, Feigling.
    Weil er mir auf Schritt und Tritt
folgt. Jeden Abend. Und da sitze ich in meinem Bett und bete zum Himmel, es
möge aufhören. Aber der Himmel hat mich sicher nicht gehört. Gott ist zu
beschäftigt, um mich zu bemerken.
    Am schwierigsten ist herauszufinden,
wie ich ihm sagen soll, daß ich’s satt habe. Ich wag’ es nicht. Ich frage mich
die ganze Zeit, was ich tun soll. Muß ich diese Situation hinnehmen, weil es
mein Vater ist, oder ihm sagen, daß ich nicht mehr will? Wirklich und
wahrhaftig. Daß er aufhören soll, das jeden Abend zu machen? Mich macht das
krank, ich habe einen Kloß im Hals, wenn ich nur daran denke. Angst. Den ganzen
Tag spukt das in meinem Kopf herum, wenn ich die alltäglichen Dinge tue, wenn
ich mit Franck Tennis spiele, wenn ich auf meiner Maschine tippe, wenn ich auf
meinem elektronischen Klavier spiele. Wenn ich den Tisch decke, wenn ich Mama
beim Abwasch helfe. Es geht mir nicht mehr aus dem Kopf, ich weiß, die Nacht
wird kommen, und er wird diese verdammte Tür öffnen. Wie lange bin ich schon
nicht mehr dieselbe? Wochen schon. Die Zeit vergeht in einem Nebel ständiger
Angst. Meine Tage sind nicht so wie früher, ich lebe nicht mehr wie vorher, ich
bin irgendwohin verschwunden, wohin weiß ich nicht.
    Mein Zimmer ist nicht mehr mein Zimmer,
meine eigene kleine Ecke, meine Welt, wo ich träumte, wo ich mir phantastische
Geschichten ausdachte. Er hat alles kaputt gemacht, alles beschmutzt. Ich fühle
mich nicht wie zu Hause, es ist irgendein kaltes Zimmer mit einem Bett und
einer Tür. Und er öffnet die Tür, er geht auf das Bett zu und beschmutzt mich.
Ich traue mich nicht einmal mehr, mich auszuziehen. Wenn ich nur in meinen
Jeans und meinem T-Shirt unter die Decke kriechen könnte, wenn ich mich ins
Bettlaken einnähen könnte, damit er mich nicht anrührt. Wenn ich anstelle der
verdammten Tür eine Mauer aus Beton errichten könnte. Ich weiß mir keinen Rat.
Ich bin schmutzig, er ist schmutzig. Das schlimmste ist, daß ich ihm das nicht
sagen kann. Mir gelingt es einfach nicht. Er kann mit seiner Tochter anstellen,
was er will, seinem kleinen Liebling, wie er sagt. Wenn ich mich wehre oder
wenn ich schreie... gesetzt den Fall, ich würde schreien... Er wird mich
schlagen. Er hat meine Mutter geschlagen, als sie ihn nicht begleiten wollte.
Er wird auch mich schlagen. Das sehe ich seinen Augen an. Ich habe kein Recht
zu verraten, was er macht. Ich weiß nicht, wo es geschrieben steht, aber
irgendwo steht es geschrieben. Außerdem habe ich Angst. Sicher bin ich schuld.
Wie kommt es, daß ich nicht mehr sein Spätzchen, sein kleiner Schatz bin, den
man nicht anrührt. Was habe ich Böses getan? Ist es wegen Franck? Weil ich
einen Liebsten habe?
    Es stimmt, ich bin jetzt groß. In
meinem Kopf hat sich etwas geändert. Da drin bin ich ganz allein. Ich habe
andere Gedanken als die anderen. Nicht wie früher. Angstgedanken. Ich habe das
Gefühl, ich könnte nie mehr mit jemandem sprechen.
    Vielleicht wird mich mein großer
Freund, der liebe Gott, heute abend erhören. Es ist eine schöne Nacht. Es ist
warm, und ich sehe mich auf einem Meer von Sternen segeln. Ich sehe aus dem
Fenster und schaue die Nacht an. Er wird mir diese Nacht
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