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Ich war seine kleine Prinzessin

Ich war seine kleine Prinzessin

Titel: Ich war seine kleine Prinzessin
Autoren: Nelly
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durchbringen, bis Mama wieder nach Hause kam — das
betrachtete ich als meine persönliche Herausforderung, als meine Rolle.
    Papa sah das nicht so. Er hatte mir
eine andere Rolle zugedacht. Und seinen anderen Kindern gar keine. Er beachtete
sie immer weniger. Laury und Sandy litten schrecklich darunter. In der Schule
hatte Laury schwer nachgelassen, aber das kümmerte Papa nicht im geringsten. Er
interessierte sich nach wie vor nur für seine kleine Prinzessin.
     
    Im Gegensatz zu meinen Geschwistern
fand ich es also zunächst gar nicht schlimm, ohne Mutter auskommen zu müssen.
Im Gegenteil, ich genoß die Situation sogar. Das änderte sich jedoch schnell,
und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als daß sie endlich wieder nach Hause
käme. Sie fehlte mir, auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte. Ich
spürte, wie ich den Boden unter den Füßen verlor, wie ich allmählich kaputtging
in der Rolle, die mein Vater für mich vorgesehen hatte. Ich versuchte mein
Bestes, aber eine erwachsene Frau, eine junge Mutter zu spielen überforderte mich
einfach.
    Ich bekam es mit der Angst zu tun. Wenn
das noch lange so weiterginge, würde es mir wie Mama ergehen, und ich würde in
Depressionen verfallen. Ich wußte nicht mehr ein noch aus, ich wußte nicht
einmal mehr, wer ich war. Ein Kind oder eine erwachsene Frau? Ich tat Dinge,
mit denen ich unbewußt auf meine verzweifelte Situation hinweisen wollte. Ich
sandte Hilferufe aus, aber niemand hörte sie. Ich schnitt mir zum Beispiel
meine schönen langen Haare ab. War das ein Signal, um auf mich aufmerksam zu
machen? Oder im Gegenteil der Versuch, eine Frau zu sein, eine richtige Frau
mit dem Gesicht einer Frau? Vorher sah ich aus wie ein Kind. Die kurzen Haare
machten mich ein, zwei Jahre älter. Rein äußerlich. Ich veränderte mich auch
körperlich, bekam Brüste. Meine Haare abzuschneiden bedeutete, mich in jemand
anderen zu verwandeln. In eine erwachsenere, stärkere Nelly...
    In Wirklichkeit war Nelly total aus der
Bahn geworfen worden, weil die Last zu schwer für sie war. Soviel darf man von
einem kleinen Mädchen einfach nicht verlangen. In der Schule, wo ich nie
Probleme gehabt hatte, immer eine gute Schülerin gewesen war, ging überhaupt
nichts mehr. Die reinste Katastrophe. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr
konzentrieren im Unterricht. Ich hatte nur einen Gedanken: Hoffentlich kommt
Mama bald nach Hause! Obwohl unser Verhältnis nicht das beste war, faßte ich
mir ein Herz, rief sie an und sagte: »Du mußt so schnell wie möglich nach Hause
kommen, ich kann nicht mehr.« Ich wußte, nur ihre Rückkehr würde mich retten
und diese undefinierbare Gefahr, in der unsere Familie schwebte, abwenden
können. Worin diese Bedrohung bestand, konnte ich nicht sagen, ich spürte eher
instinktiv, daß sich etwas Unheilvolles zusammenbraute. Und so klammerte ich
mich eben an die Hoffnung, daß alles gut werden würde, sobald Mama wieder da
war. Das war mein Strohhalm.
    Mein Vater schien sich überhaupt keine
Gedanken zu machen. Er fand alles wunderbar, so wie es war. Er war glücklich
mit seiner kleinen Nelly. Er wurde auch nicht stutzig, als ich mir die Haare
abschnitt. Kurzes Haar, kleine Brüste — für ihn bedeutete das, daß ich größer,
erwachsener wurde. Eine Frau eben. Bald würde ich zu dem Namen passen, den er
mir schon vor langer Zeit gegeben hatte.
    Großmutter Mireille redete Papa ins
Gewissen. Es sei nicht meine Aufgabe, mich um alles zu kümmern, sagte sie, ich
sei noch zu jung, er dürfe nicht alles mir überlassen. Er hörte gar nicht hin.
Es interessierte ihn überhaupt nicht. Leider stand ich Mireille zu jener Zeit
nicht mehr so nahe wie früher. Andere Enkelkinder waren geboren worden, ich war
nicht länger einzigartig, das Wunder der Familie. Wir hatten uns ein wenig aus
den Augen verloren und nur noch selten Kontakt. Sonst wäre vielleicht alles
anders gekommen. Gemeinsam hätten wir die Situation vielleicht durchschaut und
sie gemeistert, den Dingen einen Riegel vorgeschoben. Aber da ich außer meinem
Vater niemanden hatte, dem ich mich anvertrauen konnte, mußte ich die Antwort
auf gewisse Fragen selbst finden. Das war nicht leicht.
     
    Da wurde nun allmählich eine kleine
Frau aus mir, aber das einzige, wofür ich mich eigenartigerweise nicht
interessierte, waren Jungen. Ich konnte im Grunde wenig mit ihnen anfangen.
Einen kannte ich, mit dem verstand ich mich gut, aber mein Vater hatte gemeint,
ich solle mich vor ihm in acht nehmen.
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