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Ich war Hitlerjunge Salomon

Ich war Hitlerjunge Salomon

Titel: Ich war Hitlerjunge Salomon
Autoren: Sally Perel
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die alptraumhafte Zwangsreise hatte mich tief verstört.
    Mein Verhalten und meine Gefühle waren völlig durchein-
    ander. Den verständnisvollen Erzieherinnen hatte ich es zu
    verdanken, daß ich mich wieder an ein normales Leben mit
    regelmäßigem Stundenplan, vollständigen Mahlzeiten, einem
    Bett, Unterricht und einem Chor gewöhnte. Alles hätte also
    dazu beitragen müssen, dem Leben wieder Freude abgewinnen
    zu können. Doch ich litt an Heimweh, und mich quälte die
    Ungewißheit über die Lage meiner Familie. Ich wußte nicht,
    was aus ihr geworden war – und ich lebte hier unbehelligt,
    aß heißen Brei oder lernte ein neues Kapitel bolschewistische
    Theorie aus dem »Kratki Kurs WKPB«, dem von Stalin ver-
    faßten Ideologie-Lehrbuch.
    Der Schmerz nagte an mir, an meiner Seele. Die physische
    Reaktion trat dann auch bald ein. Ich wurde zum Bettnässer.
    Jeden Morgen mußte ich unter den hämischen Blicken mei-
    ner Mitschüler mein Bettzeug herausnehmen, es lüften und
    trocknen. Das war mir noch nie passiert.
    Wir verbrachten den Tag mit Lernen und musischer Beschäf-
    tigung. Jeden Abend fanden wir uns, sauber und wohlriechend,
    zum gemeinsamen Abendessen im weitläufigen Speisesaal ein,
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    der nach dem Essen als Musiksaal genutzt wurde. Es gab
    meistens Grießsuppe, die ich sehr gerne aß, weil sie mich an
    ein Gericht erinnerte, das meine Mutter oft zubereitet hatte.
    Als ich mir eines Tages diese köstliche Breisuppe schmecken
    ließ, trat eine Erzieherin an mich heran und sagte, ich solle
    in das Nebenzimmer gehen, wo eine junge Frau auf mich
    warte. Ich stellte sogleich Vermutungen über die Identität
    dieser Besucherin an. Viel eicht war es eine Schülerin aus dem
    Nachbarwaisenhaus, die mich wegen irgendwelcher Aufgaben
    befragen wollte, oder eine Schülerin der Theaterklasse. Ich
    dachte sogar an Frau Kobrynski, die mich kurze Zeit vor mei-
    ner Aufnahme ins Waisenhaus beherbergt hatte. Womöglich
    brachte sie mir Nachrichten von zu Hause. Ich ließ hastig
    meine dampfende Suppe stehen und eilte mit Riesenschritten
    zum Nebenraum. Ich schloß gerade die Tür hinter mir, als
    sich mir ein weinendes junges Mädchen an den Hals warf.
    Es war Bertha! Bertha, meine geliebte Schwester! Endlich fiel
    ein Lichtstrahl in meine Einsamkeit. Lange hielten wir uns
    in den Armen und küßten uns. Ich wollte etwas sagen, doch
    meine Worte gingen in einer Flut von Tränen unter, so aufge-
    wühlt war ich. Bertha ließ mich nicht mehr los. Ich konnte
    nur unzusammenhängende Worte stammeln, mit denen sich
    mein übergroßes Glück Bahn zu brechen suchte.
    Ich starrte Bertha immerzu ungläubig an. Ich sah ihre na-
    türliche Schönheit, so wie sie mir noch heute im Gedächtnis
    ist, und doch bemerkte ich rasch die Spuren des entsetzlichen
    Leides in ihren Zügen, das Trennung und Flucht verursacht
    hatten. Sie hielt ein armseliges Bündel in der Hand und sah
    erschöpft aus. Mit einundzwanzig Jahren hatten sie die Prü-
    fungen des Lebens bereits tief gezeichnet. Eine Stunde später,
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    als der Rausch des Wiedersehens zu verfliegen begann, setz-
    ten wir uns auf mein Bett, das einzige private Eckchen, und
    unterhielten uns. Essen wollte sie nichts, um mich nur keine
    Sekunde alleine zu lassen. Der Bericht ihres Abenteuers be-
    stürzte mich. Mit einer Freundin war es ihr gelungen, durch
    die Ghettotore zu entkommen, die sich wenig später endgültig
    geschlossen hatten. Auf demselben Weg wie ich, die gleichen
    Gefahren und Verwicklungen durchlebend, hatte sie den Bug
    überquert und mich dank der Adresse, die ich auf meinen
    Briefen in das Ghetto angegeben hatte, wiedergefunden.
    Sie erzählte mir, daß es Vater und Mutter leidlich ginge,
    daß sie glücklich seien, Isaak und mich an einem sicheren
    Ort zu wissen, und daß die beiden beschlossen hätten, sie
    nun ebenfalls in den Osten zu schicken. Mein Bruder David
    schreibe keine besorgniserregenden Briefe aus dem deutschen
    Gefangenenlager, in dem er saß.
    Bertha schlief ein paar Stunden in einem freien Bett, und
    in der Morgendämmerung des folgenden Tages nahmen wir
    wieder Abschied. Sie ging nach Smorgon, nahe Wilna, wo
    sie bei Isaak und Mira wohnen wollte, die gerade geheiratet
    hatten.
    Ich ahnte nicht, das dies eine endgültige Trennung sein
    sollte. Während ich heute diese Zeilen schreibe, steht ihre
    Photographie wie eine nie verwelkende Blume an meinem Bett.
    Trotz der Ängste, die ich ausstand, lernte ich fleißig. Einmal
    im Monat hatte ich
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