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Ich war Hitlerjunge Salomon

Ich war Hitlerjunge Salomon

Titel: Ich war Hitlerjunge Salomon
Autoren: Sally Perel
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der Vierzehnjährige, nicht ins
    Ghetto gehen, sondern versuchen sollten, uns einige hundert
    Kilometer weit nach Osten durchzuschlagen. Wir sollten den
    Grenzfluß Bug überqueren und zu den Sowjets stoßen. Dort,
    so glaubten wir, wären wir außer Gefahr.
    Mein Bruder David befand sich als polnischer Soldat in
    deutscher Kriegsgefangenschaft, meine Schwester Bertha blieb
    zu Hause bei den Eltern.
    Mein Bruder und ich zögerten. Wir wollten uns nicht
    von unseren Eltern trennen, wollten ihnen in diesen schwe-
    ren Stunden helfen und beistehen. Doch ihre Entscheidung
    war unumstößlich, und sie verlangten, daß wir uns auf den
    Weg machten. Energisch setzten sie uns auseinander, sie seien
    schon alt und wollten das Schicksal der anderen Juden der
    Stadt teilen. Wir hingegen seien jung und dazu verpflichtet,.
    jede noch so kleine Gelegenheit zu nutzen, um uns zu retten.
    »Haben wir euch nicht zur Welt gebracht, damit ihr lebt?«,
    sagte meine Mutter. Papa legte uns die Hand auf den Kopf
    und segnete uns mit dem heiligsten jüdischen Segen, dem
    Cohanim-Segen: »Geht in Frieden!« Und Mama fügte hinzu:
    »Ihr sollt leben!«
    Mit Rucksäcken bepackt, die wir mit Proviant vollgestopft
    hatten, verließen wir das Haus. Wir hatten eine Unmenge
    Selbstgebackenes eingesteckt, von meiner Mutter zubereitetes
    »Kommißbrot« aus einem besonderen Teig, dem man Zimt
    beimischte, damit es sich monatelang frisch hielt. Mein Va-
    ter sah mißbilligend auf die Lasten, die uns seiner Meinung
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    nach nur unnötig beschwerten. Ich trug meinen neuen An-
    zug, den ich zur Bar-Miz’wa, dem jüdischen ›Einsegnungsfest‹,
    bekommen hatte. Darüber schnallten wir – wie einen Gürtel
    – zusammenfaltbare Regenschirme, damals eine ganz neue
    Erfindung und entsprechend wertvoll.
    Diesen »Gürtel« versteckten wir unter weiteren Jacken und
    Mänteln, die wir noch darüberzogen. Die Schirme sollten
    sich als hilfreich erweisen, weil wir damit Bauern »bezahlen«
    konnten, die uns in ihren Pferdewagen mitnahmen, und weil
    wir sie gegen Eßbares eintauschen konnten. Mein Bruder hatte
    eine kleine Menge dieser Schirme im letzten Moment vor
    der Plünderung der Firma »Gentleman« in Lodz, für die er
    arbeitete, retten können.
    Zunächst aber gelangten wir trotz der überall auf uns lau-
    ernden Gefahren noch mit der Eisenbahn nach Warschau. Dort
    kamen wir beim Direktor der polnischen Zentrale von »Gen-
    tleman«, Silberstrom, unter, die Regenmäntel, Gummistiefel
    und eben diese Klapp-Regenschirme herstellte und vertrieb.
    Mein Bruder war aufgrund seiner Geschäftstätigkeit für die
    Firma mit dieser jüdischen Familie gut bekannt. Er hatte auf
    seinen Reisen hier häufig Station gemacht. Wir verbrachten
    bei diesen Leuten vier Tage, in denen wir versuchten, ein
    Höchstmaß an Erkundigungen einzuziehen, die uns die Be-
    urteilung der Lage erleichtern sollten.
    Ein Dutzend Meinungen und widersprüchliche Gerüchte
    waren im Umlauf. Wir waren unschlüssig und beunruhigt
    zugleich. Wir mußten uns für einen Weg entscheiden und
    konnten nur beten, daß es der richtige sei … Konnte man noch
    den Zug nehmen? Untersagten die Russen die Überquerung
    bestimmter Grenzabschnitte? Auch die Straßenräuber, die
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    überall ihr Unwesen trieben, mußten in die Planung einbe-
    zogen werden.
    Schließlich nahmen wir den Zug Richtung Grenzfluß Bug.
    Er war überfüllt. Da ich eher mager und klein war, gelang
    es mir ziemlich mühelos, einen Platz zu ergattern, während
    mein weitaus größerer Bruder fast nicht mehr in den Zug
    hineinkam. Es herrschte eine drangvol e Enge, und wir waren
    dem Ersticken nahe. Der Zug fuhr furchtbar langsam. Nach
    stundenlanger Fahrt, die kein Ende nehmen wol te, hielt er in
    einer Kleinstadt, die etwa hundert Kilometer vor dem Fluß
    lag. Diese Entfernung mußten wir zu Fuß zurücklegen. Eine
    vielleicht zwanzigköpfige Gruppe bildete sich; alle waren sehr
    viel älter als ich. Es war eisig kalt, und der Schnee türmte
    sich bis zu den Strohdächern auf.
    Gegen ein paar Münzen erklärten sich polnische Bauern bereit,
    unser Gepäck auf ihrem Karren zu befördern. Wir machten
    uns im bitterkalten Wind auf den Weg, hinter unserem Karren
    hertrottend wie eine Trauergemeinde hinter dem Leichenwa-
    gen, eingehül t in die Atemwolken des Pferdes. Das monotone
    Stapfen auf dem knirschenden Schnee erinnerte mich an die
    Vertreibung der Juden während der spanischen Inquisition, und
    ich meinte während dieses
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