Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben
Autoren: Gritt Liebing
Vom Netzwerk:
Die einen sind nur mit ihrem Körper, Material und Wettkampf beschäftigt und die anderen mit dem Anblick der angespannten Gesichter und Körper der Athleten.
    Es ist ein Spektakel der ganz besonderen Art. Mehr als hunderttausend Zuschauer beobachten mehr als zweitausend Sportler dabei, wie sie 3,8 Kilometer schwimmen, danach 180 Kilometer auf einem Rennrad zurücklegen und sich abschließend zu Fuß auf die Marathonstrecke wagen. Wenn man Triathlet ist, muss man einmal im Leben bei einem Ironman-Triathlon starten.
    Traditionsgemäß steigt beim Startschuss ein gelber Heißluftballon auf. Dieser Anblick, kombiniert mit demjenigen der im Wasser wühlenden Arme und strampelnden Beine im Morgengrauen, ist es allein schon wert, jedes Jahr wieder hier zu sein.
    Der Zauber des Morgens verwandelt sich im Laufe des Tages in eine Volksfeststimmung, die abends in einem Feuerwerk gipfelt. Tausende Menschen stehen tobend an der Strecke und tragen die Athleten förmlich ins Ziel. Die Faszination, die von diesem Wettkampf ausgeht, ist unbeschreiblich – man kann sie nur spüren.
    An diesem Tag zeigt mir mein Körper deutliche Grenzen auf. So komme ich auf dem Fahrrad, mit dem ich mich am Rand der Strecke bewege, nur hechelnd vorwärts. Dass ich mich an diese Einschränkungen gewöhnen werden muss, ahne ich in diesem Augenblick glücklicherweise noch nicht.
    Als ich abends auf dem Nachhauseweg bin, trällere ich die Songs im Radio mit. Ich sprühe vor Energie, angesteckt von den Athleten. Es ist ein ganz und gar gelungenes Wochenende.
    Bester Laune verabrede ich mich für den Abend mit einer Kollegin zum Straßenfest. Ich fahre mit dem Auto dorthin – und es wird das letzte Mal sein, dass ich hinter dem Steuer sitze.
    Ich parke mein Auto, steige aus und weiß nicht, warum ich plötzlich nur noch Pflastersteine sehe. Ich bin wieder bewusstlos geworden und ohne Vorwarnung hingefallen. Meine Hände und mein Gesicht sind blutig, meine Knie schmerzen.
    Die Kollegin hat mich vom Fenster ihrer Wohnung aus fallen sehen und kommt angerannt. In der Hand hält sie ihr Mobiltelefon, will den Krankenwagen rufen. Ich liege zwar immer noch auf der Straße und bin noch leicht benommen, doch ich flehe sie an, den Anruf nicht zu tätigen. Ich sage ihr, dass es mir schon wieder gut gehe. Sie lässt sich überzeugen und hilft mir auf die Beine.
    Als ich auf ihrer Couch sitze, fange ich an zu weinen, und meine Hände zittern. Bei einem Blick in den Spiegel sehe ich Schürfwunden an Stirn, Nase und den Handflächen. Die Nase beginnt auch anzuschwellen, und die Knie werden bald zu dick für die enge Jeans, in denen sie stecken. Meine Kollegin will mich ins Krankenhaus bringen, doch meine unvernünftige Dickköpfigkeit setzt sich durch, und wir fahren nicht. Stattdessen ruft sie die Jungs aus der Wohngemeinschaft an. Die rücken direkt zu zweit an. Ich bin wenigstens so vernünftig, dass ich mich zu diesem Zeitpunkt nicht hinter das Steuer eines Autos setzen will. Statt bei einem Straßenfest, verbringe ich den Abend also mit den Jungs daheim. Sie sind besorgt, ich weniger.
    Am nächsten Tag mache ich mir dann doch Sorgen – aber eher um meine dicke Nase – und suche meine Hausarztpraxis auf. Dort wird kurzer Prozess mit mir gemacht, als ich von meinen Ohnmachtsanfällen erzähle: Umgehend werde ich in das Städtische Klinikum Darmstadt eingewiesen. Und es gibt keinen Diskussionsspielraum.
    Im Städtischen Klinikum Darmstadt bin ich kein unbeschriebenes Blatt mehr. Die Unterlagen meines Aufenthaltes vom letzten November werden rausgekramt, und die Ursachenforschung wegen meiner häufigen Bewusstlosigkeit – im Fachjargon Synkope genannt – beginnt.
    Ich verbringe drei Tage auf der kardiologischen Station. Die Untersuchungen bringen kein Licht ins Dunkel, denn im Wesentlichen entsprechen die Ergebnisse der Diagnose vom Herbst: diverse Herzrhythmusstörungen.
    Die dokumentierten EKG s sind jedoch keine Erklärung für die zahlreichen Synkopen. Ich kann es nicht genau sagen, doch ich schätze, dass ich in den letzten vier Monaten mindestens fünfzehn Mal ohnmächtig war. Das sind zu viele Synkopen, um sie einfach auf sich beruhen zu lassen oder sie lediglich mit Stress zu begründen. Ich sehe ein, dass man der Sache auf den Grund gehen und die Wurzel des Übels ergründen muss.
    Dafür werde ich mit einem Eventrecorder ausgestattet. Dieser hat die Größe einer Zigarettenschachtel und zwei Elektroden, die auf die Brust geklebt werden. Per Knopfdruck
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher