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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben
Autoren: Gritt Liebing
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neurologische Untersuchungen an. Auf diesem Gebiet arbeiten die Ärzte hier mit akribischer Genauigkeit.
    Einen ganzen Tag lang werde ich von Kopf bis Fuß mit Sensoren verkabelt, die sämtliche Muskelaktionen und Gehirnströme aufzeichnen. Die Sensoren werden mit einer Art Knetmasse am Körper befestigt und dann mit Mullbinden festgebunden. Allein am Kopf und im Gesicht sitzen mindestens zwanzig Sensoren. Vor allem die an Nase, Mundwinkeln und Augenlidern sind ständig zu spüren. Von jedem dieser Sensoren wird ein Kabel in ein tragbares Aufzeichnungsgerät geleitet, das mit einem Gürtel an meiner Hüfte befestigt ist. Ich sehe einer verkabelten Mumie ziemlich ähnlich, schwitze unter den Mullbinden, und die Knetmasse juckt wie verrückt.
    Einen Vorteil aber hat die ganze Aktion: Ich bekomme für diesen Tag ein Einzelzimmer – mit Fernseher! Allerdings auch mit einer Kamera, die mich beim Schlafen per Video überwachen soll. Ich fühle mich noch mehr wie im Gefängnis, und an Schlaf ist in dieser Nacht ohnehin nicht wirklich zu denken.
    Nach dem Tag im Big-Brother-Zimmer freue ich mich schon wieder auf die Gesellschaft meiner vier Zimmergenossinnen. Und es ist eine Wohltat, als ich endlich unter der Dusche stehe, um mich von den Resten der Knetmasse zu befreien.
    Doch das war noch nicht die letzte Untersuchung. Um meine körperliche und mentale Belastbarkeit zu testen, darf ich in den nächsten vierundzwanzig Stunden weder essen noch schlafen. Das ist ein echt schwieriges Unterfangen – vor allem in dieser trüben Umgebung …
    Nachmittags beginnt mein Magen das erste Mal zu knurren, und ich bekomme Kopfschmerzen. Natürlich erhalte ich kein Schmerzmittel. Es sollen ja die Belastbarkeit und die Fähigkeit, Stressfaktoren zu bewältigen beziehungsweise aushalten zu können, untersucht werden. Ich habe keine Ahnung, ob ich gut oder schlecht darin bin. Auf jeden Fall werde ich mit fortschreitender Zeit aggressiv.
    Kurz nach Mitternacht trifft mich die Müdigkeit wie ein Blitz. Ich trinke Wasser und Tee – das Einzige, was ich zu mir nehmen darf, damit mich der Harndrang wachhält. Ich schlurfe über den Stationsflur und höre nicht ein einziges freundliches, aber auch kein unfreundliches Wort des Nachtpersonals. Ich komme mir vor wie ein Gespenst, unsichtbar und schlaflos. Ob Gespenster auch knurrende Mägen haben, weiß ich allerdings nicht.
    Irgendwann in den frühen Morgenstunden wird ein Notfall eingeliefert, ein akuter Schlaganfall. Es gibt kein freies Bett, und so liegt die wimmernde, desorientierte alte Dame auf dem Flur. Zeit für mich, diesen zu verlassen, mich auf mein Bett zu setzen und aus dem Fenster ins Morgengrauen zu starren.
    Um sieben Uhr werde ich zum Messen der Hirnströme – dem EEG – geschickt. Dabei wird mir eine enge Gummihaube mit Löchern auf den Kopf gezogen. In die Löcher werden Sensoren gesteckt, die die Aktionen in meinem Hirn bildhaft darstellen sollen. Die Haube drückt auf meinem ohnehin schmerzenden Kopf, und ich habe weder Geduld noch Lust, mich immer noch wachzuhalten. Aber das ist für die Untersuchung erforderlich und ein echter mentaler Kraftakt.
    Eine Stunde später hat die Qual ein Ende, und ich falle bis zum Mittagessen in einen traumlosen Tiefschlaf. Der Schlaf tut gut, und das Mittagessen ist wie ein Fest für den Gaumen.
    Nachmittags werde ich ins Städtische Klinikum Darmstadt gebracht, wo eine Kernspintomographie meines Schädels gemacht wird. Die Untersuchung verursacht mir keine Schmerzen, sondern erfordert lediglich, dass ich ungefähr eine halbe Stunde lang ganz still in einer riesigen Röhre liege. Diese Röhre macht die unterschiedlichsten Klopfgeräusche, doch das stört mich überhaupt nicht. Ich kann sogar etwas zur Ruhe kommen, wenngleich es für ein Nickerchen nicht reicht.
    Als ich zurück in der Neurologischen Klinik in Eberstadt bin, gebe ich die Bilder meines Hirns im Schwesternzimmer ab und möchte eigentlich nur noch eins: meine Tasche packen und einfach nach Hause gehen.
    Die Realität holt mich jedoch schnell aus meinen Tagträumen auf den Boden der Tatsachen zurück – und zwar in Form eines kreischenden Stationsarztes.
    Ganz zufällig werde ich auf dem Weg zur Toilette Zeuge eines unkontrollierten Ausbruchs offensichtlich angestauter Emotionen. Der Arzt steht bei geöffneter Tür im Stationszimmer vor meinen MRT -Bildern und trampelt mit den Füßen auf den Boden, während er lautstark vor sich hinflucht: »Nein, nein, nein! Nicht auf meiner
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