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Ich muss Sie küssen, Miss Dove

Titel: Ich muss Sie küssen, Miss Dove
Autoren: Laura Lee
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sehen und dabei schon vor langer Zeit gelernt, dass diese Verbindungen wenig mit Liebe zu tun hatten. Miss Bordeaux war Cancantänzerin in einem Varieté und nahm von den Herren Geld für ihre Gefälligkeiten an. Sie konnte doch wohl kaum erwarten, dass aus einer so anrüchigen Liaison eine ernsthafte Verbindung wurde.
    Aber vielleicht, so überlegte Emma, war ihre Ansicht auch nicht ganz gerecht. Seine Lordschaft übte eine außerordentliche Anziehungskraft auf das andere Geschlecht aus. Ein Teil seines Reizes war zweifellos auf die Tatsache zurückzuführen, dass er eine echte britische Rarität war — ein unverheiratetes, sehr vermögendes Mitglied des Hochadels. Doch da war noch mehr. Wann immer Harrison Robert Marlowe einen Raum betrat, in dem sich weibliche Wesen aufhielten, gab es ein allgemeines verklärtes Aufseufzen.
    Emma stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und dachte nüchtern über ihren Arbeitgeber nach, während Miss Bordeaux ihm weiterhin hemmungslos nachweinte.
    Er sah sehr gut aus; eine Frau musste schon blind sein, dies nicht zu bemerken. Seine tiefblauen Augen bildeten einen aparten Kontrast zu seinem dunkelbraunen Haar. Marlowe war sehr groß und hatte breite Schultern, sein Körper war wohlproportioniert. Er verfügte über Verstand und einen fast jungenhaften Charme, wobei Letzterer oft noch von einem — anders konnte man es nicht nennen — umwerfenden Lächeln unterstrichen wurde.
    Emma stellte sich dieses Lächeln vor, ohne dass ihr Herz dabei schneller schlug, aber sie war nicht immer dagegen immun gewesen. Ganz zu Beginn ihrer Arbeit für den Viscount hatte sich ihr Pulsschlag deutlich beschleunigt bei diesem Lächeln. Anfangs hatte auch sie ein paar Mal verklärt geseufzt. Doch ihr war schon bald klar geworden, dass aus solchen Hoffnungen nichts Ehrbares werden würde. Ganz abgesehen von dem Standesunterschied war Marlowe ein echter Tunichtgut, dessen Umgang mit Frauen einzig äußerst unehrenhafter Art war. Als seine Sekretärin hatte sie sein lasterhaftes Privatleben nichts anzugehen, und als tugendhafte Frau hatte sie jegliche romantischen Wünsche in Bezug auf ihn längst abgeschüttelt.
    Jede andere halbwegs verständige Dame hätte seinen Charakter ebenso durchschauen können wie sie. Er hatte sich von seiner Gattin wegen Ehebruchs scheiden lassen, was einen enormen Skandal ausgelöst und die Gesellschaft zutiefst erschüttert hatte. Bis zum heutigen Tag litt seine Familie unter diesem Makel. Ob nun die Untreue seiner Frau Auslöser für seine Verachtung der Ehe gewesen war oder ob er sie vorher schon empfunden hatte, darüber konnte man nur spekulieren. Wer jedoch regelmäßig das bei Marlowe Publishing erscheinende Junggesellenmagazin las, wusste aus Marlowes Leitartikeln, dass dieser die Ehe ähnlich schätzte wie die Sklaverei — wobei er betonte, Erstere sei nur eine andere Erscheinungsform der Letzteren.
    Sein Verhalten und seine zynischen Ansichten hätten Frauen eigentlich abschrecken müssen, aber so seltsam es Emma auch vorkam, das Gegenteil schien der Fall zu sein. Marlowes berühmter Schwur, nie wieder zu heiraten, schien seinen Reiz nur noch zu erhöhen und machte ihn zu einer unwiderstehlichen Herausforderung. Frauen aller Gesellschaftsschichten träumten davon, die Eine zu sein, die das Herz des unnachgiebigen Viscounts erobern konnte. Emma war viel zu vernünftig für so etwas - Schürzenjägern hatte sie noch nie etwas abgewinnen können.
    Sie betrachtete das immer noch weinende Häufchen Elend vor sich, dachte an Marlowes Lächeln, und ihr Gewissen begann sich zu regen. Nicht alle Frauen besaßen einen gesunden Menschenverstand. Vielleicht war die Tänzerin so töricht gewesen, sich wirklich in ihn zu verlieben, und hatte gehofft, er würde ihre Gefühle erwidern. Vielleicht war sie tatsächlich zutiefst verletzt, weil er sie verlassen hatte. Emmas Erfahrungen in Herzensangelegenheiten waren nicht gerade umfassend - ihr einziges einschneidendes Erlebnis in dieser Hinsicht lag bereits zehn Jahre zurück -, aber sie erinnerte sich noch gut daran, wie sehr ein gebrochenes Herz schmerzte.
    Sie zog eine Schublade ihres Schreibtischs auf und entnahm ihr eine rosaweiß gestreifte Schachtel. „Das alles muss sehr schwer für Sie sein", murmelte Emma und nahm den Deckel der Schachtel ab. „Möchten Sie vielleicht ein paar Pralinés? Ich finde sie in solchen Situationen immer sehr tröstlich."
    Die Frau schien Emmas Angebot nicht für eine freundliche Geste zu
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