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Ich kenne dein Geheimnis

Titel: Ich kenne dein Geheimnis
Autoren: Aufbau
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es gab Ausnahmen.
     Besonders ihre Kollegin Maria Pia Rossini hatte ihr schwere Vorwürfe gemacht: »Lassen wir dein Kindheitstrauma und die Psychologie
     mal beiseite, mein Schatz. Den Eltern die Schuld zu geben ist ein bequemes Alibi für das eigene Scheitern. Die Wahrheit ist,
     dass du einfach noch keinen Mann gefunden hast, der dir richtig den Kopf verdreht hat.«
    Maria Pia hatte recht. Doch dann kam Paolo. Bei ihm hatte sie alle Bedenken über Bord geworfen. Zum allerersten Mal in |21| ihrem Leben war sie richtig verliebt, ohne Wenn und Aber. Mehr noch: Sie hatte nicht einmal Angst, ihn zu verlieren.
    Nach dem Duschen gönnte sie sich eine Tasse grünen Tee und einen Vollkorntoast mit Honig. Wer weiß, vielleicht wäre sie bei
     Paolos Rückkehr zu einer radikalen Veränderung bereit. Sie blickte auf die Küchenuhr. Halb zehn. In New York war es mitten
     in der Nacht. »Was soll’s!«, dachte sie und sprang auf, um ihr Handy aus dem Badezimmer zu holen. Plötzlich wurde ihr schwarz
     vor Augen, ein stechender Schmerz zuckte durch ihren Kopf. Wahrscheinlich der Blutdruck. »Zu schnell aufgestanden«, dachte
     sie, während sie sich an der Wand abstützte und tief durchatmete. Sie blickte sich um. Alles war wie immer. Gut. Sie sprach
     ihren Gedanken laut aus, um sich selbst zu überzeugen. Unter ihren nackten Fußsohlen fühlte sich der Küchenboden merkwürdig
     kalt an, als wäre er aus Eis. Auch ihre Hände waren plötzlich eiskalt. Sie löste sie von der Wand, vielleicht war es der Kontakt
     mit den Keramikkacheln? Dann hüllte sie sich fest in den Bademantel. Mit einem Schlag fühlte sie sich unglaublich leicht,
     alles um sie herum begann zu strahlen, so sehr, dass es in den Augen weh tat. Ein schwacher Duft nach Tee lag in der Luft,
     nur ein Hauch, aber doch durchdringend. Ihr fiel auf, dass sie jeden noch so feinen Geruch wahrnahm, selbst die Brotkrumenreste,
     die im Toaster steckengeblieben waren, oder den leichten Schweißfilm auf ihrem Körper. Sie stieß gegen den Teller auf dem
     Tisch, es dröhnte in ihren Ohren wie ein Pistolenschuss. Die Intensität der Sinneseindrücke verwirrte sie, ihr wurde übel.
     Sie zwang sich, nach unten zu blicken, und versuchte gleichzeitig, das blendende Weiß der Fliesen zu ignorieren. Konzentriere
     dich auf das Hier und Jetzt, konzentriere dich. Selbst ihre Gedanken hallten laut in ihrem Kopf wider. Sie schloss die Augen.
     Noch bevor es ihr bewusst wurde und |22| sie etwas dagegen tun konnte, war sie nach langer Zeit wieder ins Unbewusste, ins Reich der Visionen, eingetaucht. Während
     sie immer tiefer sank, wurde sie den Gedanken nicht los, dass das, was gerade passierte, etwas mit Silvia Giorgini zu tun
     haben musste.
     
    Sie stand um 7:29 Uhr auf, genau eine Minute bevor der Wecker klingelte. Ihre Freunde machten sich schon über diese Marotte
     lustig. »Das kann jeder«, sagte sie. »Ihr müsst nur vor dem Einschlafen die Uhrzeit verinnerlichen, zu der ihr aufstehen wollt,
     und zack! – am nächsten Morgen wacht ihr auf die Sekunde genau auf.«
    »Und warum stellst du dir dann überhaupt einen Wecker, meine kleine Hexe?«, wollte Paolo eines Tages wissen. Im Grunde gefiel
     ihm seine Rolle, er fühlte sich wie Darrin Stephens, der nicht magisch begabte Ehemann von Samantha, der Hauptdarstellerin
     der amerikanischen Fernsehserie »Verliebt in eine Hexe«.
    »Ob du es glaubst oder nicht, ich will mich absichern, für den Fall, dass meine magischen Fähigkeiten einmal versagen.« Chiara
     sah ihn an und zog die Nase kraus, genau wie die Hexe Samantha vor ihren Zaubereien. »Siehst du? Nichts passiert. Ich habe
     dich nicht in eine Katze verwandelt. Deshalb verlasse ich mich lieber auf die Technik oder handfeste Tatsachen.« Sie lachte.
    Nach der Vision vom Vortag jedoch fand sie nicht in die Realität zurück, sosehr sie sich auch anstrengte. Die Erinnerung an
     das, was vor ihrem inneren Auge abgelaufen war, ließ sie nicht mehr los:
    Schlagartig war das gleißende Licht, das die Küche zum Strahlen gebracht hatte, erloschen. Chiara fühlte sich in einen dunklen,
     feuchten Keller versetzt. Dann ein Lichtblitz und |23| wie aus dem Nichts war vor ihr das bleiche Gesicht einer blonden Frau aufgetaucht. Sie hatte die Augen geschlossen, die Gesichtszüge
     waren verzerrt. Chiara wollte einen Schritt auf sie zugehen, konnte sich aber nicht von der Stelle rühren. Unvermittelt hatten
     sich die Augenlider der Unbekannten gehoben und zwei blutunterlaufene
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