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Ich denke, also spinn ich - warum wir uns oft anders verhalten, als wir wollen

Ich denke, also spinn ich - warum wir uns oft anders verhalten, als wir wollen

Titel: Ich denke, also spinn ich - warum wir uns oft anders verhalten, als wir wollen
Autoren: dtv
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erkennt sofort die verzweifelte Lage, in der der Mann steckt. Er ist verstört, kann kaum sprechen, essen oder arbeiten. Er wagt sich kaum noch unter Menschen wegen seines Leidens. Er hat nackte Angst. Also hört sich der Arzt um, fragt Kollegen, forscht in der Literatur, was es dort über das Gähnen gibt. Doch dort findet er: nichts. Es gibt ein paar wissenschaftliche Aufsätze, wenige empirische Arbeiten, etwas Theorie. Mehr nicht. Unglaublich! Obwohl der Mensch rund eine Viertelmillion Mal in seinem Leben gähnt, ist der Reflex in der Wissenschaft so gut wie unerforscht.
    Bis heute ist das wenig besser geworden. Immerhin: Walusinski gilt mittlerweile als der weltweit führende Experte auf dem Gebiet der Gähnforschung. Er hat, rund 30   Jahre nach der Begegnung mit seinem Patienten, über 1000   Artikel dazu verfasst, Anfang 2010 einen Sammelband herausgegeben (›The Mysteryof Yawning‹) und Ende Juni 2010 in Paris die erste internationale Gähnkonferenz organisiert. Man weiß nun, dass ein Mensch im Schnitt etwa acht Mal am Tag für eine Dauer von jeweils fünf bis zehn Sekunden gähnt. Männer und Frauen in etwa gleich oft. Auch kann man als gesichert betrachten, dass wir besonders häufig morgens gähnen. Ebenso bei monotonen Arbeiten oder bei der Lektüre langweiliger Texte (gähnen Sie etwa gerade?). Manche Menschen gähnen auch, um Stress abzubauen: Olympioniken tun dies zum Beispiel, kurz bevor die Pistole knallt. Ebenso gilt als unstrittig, dass nicht nur die Krone der Schöpfung gähnt, sondern zahlreiche Lebewesen gleich mit. Unser nächster Verwandter, der Affe, gähnt etwa genauso oft wie wir. Doch auch Pferde, Hunde, Katzen, Ratten, Vögel, Krokodile, Schlangen und sogar Fische gähnen. Der Juwelen-Riffbarsch zum Beispiel verteidigt sein Revier, indem er Eindringlinge mehrfach angähnt. Es ist nicht bekannt, ob Barsche Mundgeruch haben. Aber abschreckend hässlich sieht das auf jeden Fall aus. »Alle gähnen«, sagt der Schweizer Neurologe Adrian Guggisberg. Nur wisse bis heute keiner, warum.
    Als widerlegt gilt zumindest schon mal die Theorie, dass die spontane Gähnattacke das Gehirn mit Sauerstoff versorge. »Unfug!«, monierte der U S-Psychologe Robert Provine bereits 1987.   Ein einzelner tiefer Atemzug rettet das ermattete Denkorgan sicher nicht vor dem Vernunftausfall. Da hätte der Urheber dieser Theorie besser etwas häufiger gähnen sollen. Andere vermuten, der Reflex könnte mit dem Zuckergehalt im Blut zusammenhängen: Wenig Zucker gleich mehr Gähnen. Genau wissen die Wissenschaftler das aber nicht.
    Deshalb konzentrieren wir uns lieber auf eine andere, nicht weniger spannende Frage: Warum wirkt Gähnen so ansteckend?
    Es gibt nur wenige Erklärungsversuche. Neuropsychologen halten das menschliche Reflexgähnen für eine Art soziale Reaktion und bedienen sich dazu zahlreicher Analogien aus dem Tierreich: Löwen zum Beispiel gähnen sich gegenseitig an, bevor sie zur gemeinsamen Jagd aufbrechen. Bei den Affen wiederumist es vor allem das dominante Männchen, das seine Horde gut sichtbar angähnt, um ihr zu signalisieren: Zeit, schlafen zu gehen! Bei Makaken beobachtete der Verhaltensforscher Bertrand Deputte von der Universität Rennes, dass das Alpha-Tier am meisten gähnte. Und das, obwohl der Faulpelz am wenigsten zu tun hatte. Interessant ist in dem Zusammenhang auch, dass sich zwar Hunde untereinander kaum vom Gähnen anstecken lassen   – wohl aber von ihrem Herrchen oder Frauchen. Gähnt ihr Besitzer, machen sie das in 70   Prozent aller Fälle nach. Die Forscher vermuten daher, dass auch wir uns aus einer Art Unterordnung oder Herdentrieb anstecken lassen. Ein weiteres Indiz: Schon der Gedanke daran kann einen Gähnimpuls auslösen.
    Als der Psychologe Andrew Gallup von der Universität Albany wiederum untersuchte, ob und wie man sich vor der Ansteckungsgefahr effektiv schützen könne, stellte er fest: Wer ausschließlich durch die Nase atmet oder sich einen kühlen Wickel von vier Grad Celsius an die Stirn klatscht, wird nahezu immun dagegen. Gallup folgerte daraus, dass das Gähnen vor allem der Kühlung der grauen Zellen diene. Diese Theorie wurde in Paris zwar stark bezweifelt   – dennoch finden wir sie sehr sympathisch. Denn falls Sie gerade gähnen, hieße das eben nicht, dass dieser Text langweilig ist, sondern Sie vielmehr so sehr angeregt hat, dass Ihr Oberstübchen gerade heiß läuft, woraufhin Ihr Körper die biologische Klimaanlage anwirft. Schmeichelhaft
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