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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten
Autoren: Anouk Markovits
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setzte keinen Fuß in die Küche mit dem Kruzifix, sondern deutete von der Türschwelle aus auf den offenen Koffer. »Dort, wo er hingeht, braucht er die nicht.«
    Florina packte die neuen Holzpantinen des Jungen wieder aus. Sie klappte den Deckel des Pappkoffers zu und wickelte einen Bindfaden darum. Dann drückte sie die Daunendecke flach, rollte sie zu einem festen Wulst und band ihn ebenfalls mit Bindfaden zusammen. Sie drückte dem Jungen die Brosche seiner Mutter in die Hand.
    Der Junge schloss die Finger um die Brosche. Seine Arme umschlangen die Daunendecke, hinter der er fast ganz verschwand.
    Und so ließ Florina ihn ziehen, den Jungen mit den Strauchnesselaugen, die im richtigen Licht oben grün und unten flaumig grau waren. Sie stand unter dem Vordach aus Blech, sah zu, wie ihr Anghel mit dem Juden zum Tor lief, und wartete darauf, dass ihr Sohn sich ein letztes Mal zu ihr umschaute.
    Als sie beim Tor angekommen waren, sagte Zalman zu dem Jungen, es sei besser für Doamnă Florina, wenn er nicht mehr zurückblicke.
    Zalman breitete seinen Mantel im Karren aus.
    Der Junge kroch zwischen Zalmans Mantel und die Daunendecke, zwischen schwarze Wolle und weißes Leinen. Die Räder knirschten im Kies und drehten, drehten, drehten sich, weg von Florina …
    »Selbst ohne jede Bildung hast du schon eine gute Tat vollbracht«, sagte Zalman, als der Karren am Jüdischen Friedhof vorbeiklapperte. »Jetzt warten die sterblichen Überreste von Gershon Heller in jüdischem Boden auf das Ende der Tage. Allein dafür wird der Herr dich mit dem ewigen Leben belohnen.« Zalman warf einen kurzen Blick auf den Jungen unter der Daunendecke, dann blickte er wieder nach vorne auf die Straße. »Vatome-er Zio-on«, begann er zu singen. »So fängt deine Haftara an. Bist du bereit für die Bar Mizwa, Josef, Sohn des Jekutiel und der Judith? Bar Mizwa bedeutet ›Sohn des Gebotes‹; es bedeutet, dass du mit deinem dreizehnten Geburtstag vor dem Gesetz ein Mann bist.« Als hätte Josef ihm geantwortet, intonierte Zalman die Kantillationen, die Jungen für den Tag lernen müssen, an dem sie zum ersten Mal in der Synagoge aus der Thora vorlesen. »Zakef Kato-on … Deine Stimme muss tief aus dem Bauch herauskommen! Zakef Gadol … Meinst du, ich denke mir die Gesänge aus? Meinst du, ein Mensch kann so schöne Melodien erfinden? Nein, Gott selbst hat sie Moses auf dem Sinai beigebracht.«
    Und Zalman sang für die weiten Felder, für den Weg, der vor ihnen lag, und für den Jungen zwischen Mantel und Daunendecke: »Paze-e-e-e-er!«
    *
    An dem Abend, an dem Zalman den Jungen holen fuhr, wälzte sich Mila schlaflos im Bett. Als Zalman am nächsten Abend nicht zurück war, wurde sie noch unruhiger. Die Angst hielt sie wach: »Was, wenn sie gefasst werden?«
    Atara versuchte sie zu beruhigen. Der Krieg sei vorbei, außerdem habe Zalman gesagt, er rechne damit, mehrere Tage lang unterwegs zu sein, vor allem, wenn der Junge nicht sofort mitwollte.
    »Dein Vater ist dickköpfig«, meinte Mila. »Dem Jungen wird gar nichts anderes übrig bleiben, als mitzugehen.« Von ihren Zweifeln, ob es richtig sei, den Jungen von seiner neuen Mutter wegzuholen, verriet sie nichts.
    Die beiden Mädchen lehnten sich über das Balkongeländer und blickten die Straße entlang in Richtung Deseu. Endlich bog der Karren um die Ecke.
    »Da sind sie!«
    Sie rannten die Treppe hinab: Mila, Atara, Hannah und die jüngeren Kinder.
    Hannah begrüßte den Jungen überschwänglich. »Schólem-aléjchem!« Sie nahm ihm die Daunendecke aus den Armen und bestand darauf, dass er großen Hunger haben musste.
    Die Sternkinder wunderten sich über den Bauernjungen vor ihrer Tür, auf dessen schulterlangem honigfarbenen Haar Zalmans schwarze Kippa saß und irgendwie fremd wirkte. Sein Gesicht hatte nicht die Stubenblässe eines Jeschiwajungen, sondern war gebräunt. Während die anderen Kinder den Jungen in die Küche führten, wo Hannah eine Mahlzeit für ihn zubereitete, stahl Mila sich fort. Noch hatte der Junge sie nicht erblickt, und sie wollte ihm nach den vielen neuen Eindrücken nicht auch noch die Wiederbegegnung mit ihr zumuten. Sie ging ins Mädchenschlafzimmer und setzte sich aufs Bett. Die Erleichterung stand ihr im Gesicht geschrieben. In den zwei Jahren, die sie jetzt bei den Sterns lebte, hatte sie sich noch nie so gelöst gefühlt. Sie stand auf, wandte sich gegen Osten und betete mit neuer Inbrunst für das Kommen des Messias. Sicher war dieses erste
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