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Ich bin kein Berliner

Ich bin kein Berliner

Titel: Ich bin kein Berliner
Autoren: Kaminer Wladimir
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Ende, es war arschkalt in Berlin, und die meisten meiner Freunde verließen kaum noch ihre Wohnung. Einige lernten sogar, bei Kaiser’s per Internet einzukaufen. Ich aber suchte unverdrossen draußen nach Herausforderungen und fand auch ständig welche. Immerhin drehte ich zusammen mit meinem Kameramann Norbert eine ZDF-Dokumentation über interessante Schauplätze in Berlin. Zwei drehwürdige Objekte standen auf unserem Plan: eine Dackelranch in Lichtenrade und die Malewitsch-Ausstellung im Guggenheim Museum der Deutschen Bank. Es hatte minus acht Grad, vielleicht sogar minus zehn, als wir in Lichtenrade auftauchten. Die Dackelbesitzer hatten sich in ihrem kleinen Häuschen versammelt und tranken heiße Getränke. Für die Außenaufnahmen drückten sie mir ihren Langhaardackel Riko in die Hand. Meine Exfreundin hatte früher einen solchen Hund, meine aktuelle Frau steht jedoch auf Katzen. Deswegen habe ich den Umgang mit diesen Kurzbeinern inzwischen verlernt.
    Mit dem frierenden Hund auf dem Arm stellte ich mich vor die Kamera und sagte den tollen Satz, den ich mir bereits unterwegs nach Lichtenrade ausgedacht hatte: »Hier auf der Dackelranch in Lichtenrade können Riko und seine Freunde ihre Bewegungsfreiheit in vollem Ausmaß genießen.« Währenddessen ließ ich Riko los. Anstatt nun mit lustigem Gebell herumzurennen, plumpste der Dackel wie ein Kartoffelsack auf die Erde und blieb vor meinen Füßen liegen. Alle Dackelbesitzer sprangen sofort aus ihrem Häuschen. Sie waren sichtlich geschockt. Ausführlich erklärten sie mir, dass Dackel keine Katzen seien und warum nicht. Ich entschuldigte mich. Meine Kollegen waren verzweifelt.
    »Ob wir einen neuen Dackel von denen bekommen?«, fragten sie flüsternd.
    Nach zehn Minuten legte sich die Aufregung zum Glück. Riko wurde entsorgt. Ich bekam einen neuen, kurzhaarigen Dackel. Er hieß Löwe.
    »Hier in Lichtenrade können Löwe und seine Freunde ihre Bewegungsfreiheit in vollem Ausmaß …« – um ein Haar wäre auch dieser Dackel mir wieder entglitten. Zum Glück hatte das keiner mitbekommen, und ich drückte Löwe fest an meine Brust, bis er quietschte. Nach zehn Wiederholungen waren wir mit den Dreharbeiten fertig und alle Dackel noch am Leben.
    Wir packten ein und fuhren zur Malewitsch-Ausstellung Unter den Linden. Es wimmelte von Besuchern, die Museumswächter waren schon fast am Durchdrehen. Die avantgardistische Malerei wirkte zusätzlich verstörend auf sie. Der weißrussische Maler Kasimir Malewitsch hatte noch vor der Großen Oktoberrevolution seine eigene kleine Kunstrevolution angefangen, indem er den altbewährten so genannten Brotkorb-Realismus überwand und eine neue, reinere Bildsprache entwickelte: die gegenstandslose Malerei, die er dann Suprematismus nannte. Der Künstler beteuerte mehrmals, seine Werke wären von der Sünde des Gegenstands befreit. Trotzdem hörten die Menschen nicht auf, in seinen Bildern nach einem Gegenstand zu suchen. Und viele fanden etwas. Das Publikum im Guggenheim Museum bewegte sich langsam von einem schwarzen Quadrat zum nächsten und machte sich so seine Gegenstands-Gedanken. Ich wurde sofort von einem Museumswächter angesprochen.
    »Sie sind doch echter Russe, nicht wahr? Könnte es sein, dass diese Bilder eine magische Kraft besitzen? Ich habe hier schon mit zwei anderen Russen darüber gesprochen, sie sagten, sie wüssten zwar, was ich meine, wollten aber nicht mit mir darüber reden. Kommen Sie mit, ich muss Ihnen das zeigen!«
    Auf dem Bild »Weißes Kreuz auf weißem Grund« sah der Museumswächter eindeutig ein Gesicht. Ob ich das auch sehen könne? Hier die Augen und da die Nase! Ob das Malewitsch selbst sei? Klar konnte ich es sehen. Der Künstler lächelte uns aus dem weißen Kreuz an und beobachtete den Museumswächter, wohin er auch ging. Manchmal schnitt er ihm sogar Grimassen. Von einem anderen Bild wurde der Wächter regelmäßig nass, behauptete er jedenfalls steif und fest, so als würde ein unsichtbarer Regen aus dem Bild sprühen. Der Wahnsinn der Bilder zog ganz Unbeteiligte in seinen Bann, und die Museumswächter wurden, ohne es zu merken, Teil der Ausstellung. Denn Künstler, die sich als Schöpfer einer neuen Welt präsentieren, stellen die bereits existierende Welt infrage – die gute alte Welt mit ihren Antiquitäten, Museen und Museumswächtern. Da war Malewitsch nicht der Einzige. Die letzte russische Kunstrevolution fand in den Neunzigerjahren statt, als nach der Perestroika die
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