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Ich bin kein Berliner

Ich bin kein Berliner

Titel: Ich bin kein Berliner
Autoren: Kaminer Wladimir
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Die Besucher des U-Boots sollen von den Stimmen der drei russischen Studenten erschreckt werden. »MG10 in Position bringen! Täuschkörper abwerfen! Wassereinbruch! Wir gehen unter!«, schrie dazu Stasik einen halben Tag lang im Tonstudio. Als er mir das erzählte, war seine Stimme noch immer rau. Er klang wie Leonard Cohen und konnte nur flüstern, was ihn als Mensch in ein ganz neues Licht tauchte. Doch im Großen und Ganzen war er mit dem Job zufrieden. Besonders faszinierte ihn das ihm vorher unbekannte Wort »Täuschkörper«, das er sofort zu seinem neuen Lieblingsschimpfwort erkor.
    Ein anderer Freund von uns, Gena, fand einen Job an der Bar eines Restaurants der verschärften Sinne: Nogti Vagus, im Volksmund »Blindenrestaurant« genannt. Dort wird in absoluter Dunkelheit gegessen. Niemand weiß, was vor ihm auf dem Teller liegt, wer neben einem sitzt und wie dieses Lokal überhaupt aussieht. Abgesehen von seiner taktilen Arbeit an der Theke, muss Gena auch noch die Kunden, die zum ersten Mal in das Restaurant kommen, einweisen und ihnen alles mit einer besonders einschmeichelnden Stimme erklären. »Die Welt des Alltags verblasst … Die Welt der Sinne öffnet ihre Tore … Sie spüren eine unbekannte Kraft … Ihnen wächst ein drittes Auge auf der Stirn …« Gena zuliebe waren wir schon mehrmals in diesem Restaurant und wissen inzwischen die wirklichen Vorteile eines stockfinsteren Speisesaals zu schätzen: Man kann nach allen Seiten kleckern, mit beiden Händen essen, dem Nachbarn das Glas klauen und von seinem Teller kosten sowie wildfremde Menschen, zum Beispiel aus Bayern, sexuell belästigen. Mit einem Wort: sich allen Spaß erlauben, den man immer schon in einer öffentlichen Gaststätte haben wollte, aber sich im Hellen nicht traut. Gena scheint mit seinem Job auch zufrieden zu sein. Er will sich eine Infrarotbrille zulegen, kann aber auch so schon Einiges über das Blindenrestaurant erzählen.
    Überhaupt blühen immer ulkigere Dienstleistungen in Berlin auf. Alle wollen irgendetwas verkaufen, nur Käufer gibt es nicht genug. Neulich sprachen mich zwei sympathische Punkerinnen auf der Schönhauser Allee an.
    »Hast du eine Freundin?«
    »Ja, eigentlich schon«, antwortete ich verlegen.
    »Toll, dann kannst du uns für deine Freundin ein paar Sachen abkaufen«, meinten sie. »Wie wäre es mit einem Slip oder mit Nivea-Creme?«
    Sie machten ihre Tüten auf – voll mit Frauensachen. Vielleicht hatten die Mädels gerade eine halbe Schlecker-Filiale ausgeraubt? Ich kam gerade aus dem Blindenrestaurant und war etwas knapp bei Kasse, deswegen wurde aus dem Slip-Schnäppchen nichts. Trotzdem, fand ich, eine tolle Dienstleistung.
    In Prenzlauer Berg darf man sogar bei McDonald’s rauchen. Die jungen Leute schwänzen dort die Schule, die älteren Herren mischen ihr mitgebrachtes Bier mit Jägermeister. Ein halbes Jahr lang wurde neben dem McDonald’s kräftig gebaut. Baugerüste versperrten den Fußgängern den Weg, und man hörte die Bauarbeiter hinter dem Holzzaun jeden Tag in einer anderen Sprache fluchen. Meine Frau und ich, wir waren sehr gespannt. Gelegentlich guckten wir neugierig durch die kleinen Löcher des Zauns. Etwas Neues wurde dort aus dem Boden gestampft. Das Neue war hellgrün und sah ziemlich modern aus. Dann verschwanden die Kräne eines Tages, das Baugerüst wurde abgebaut – und ein Ärztehaus stand auf der Schönhauser Allee mit einer Physiotherapeuten-Praxis namens »Rückenwind« und einem »Albert-Schweitzer-Döner« im Erdgeschoss. Anfangs hatten wir große Zweifel, ob das gut gehen konnte. Doch das Verhalten der Bewohner auf der Schönhauser kann niemand vorhersagen. Zuerst standen sie vor dem Imbiss Schlange, um einen Döner zum Eröffnungspreis von neunundneunzig Cent zu ergattern. Anschließend ließen sie sich von freundlichen Therapeuten massieren.
    Man hat sich eben schon daran gewöhnt, dass bei uns nur die verrücktesten Geschäftsideen eine Chance haben. In unserem Wohnhaus zum Beispiel standen lange Zeit die Gewerberäume leer, nachdem ein Aufkleberladen darin gescheitert war. Die Hausverwaltung zeigte sich wählerisch. Sie wollte nicht irgendeinen Laden mit Alltagsbedarf hereinlassen und wartete geduldig auf den Volltreffer. Das Warten hat sich gelohnt. Seit drei Monaten haben wir nun einen Gummibärchenladen im Erdgeschoss. Dort werden rote, schwarze und gelbe Gummibärchen verkauft, und zwar ausschließlich in Kilopackungen. Man kann auch einen einzigen
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