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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht
Autoren: J Berry
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bösen Blick zu.
    Auch Rupert Gillis und seine Klasse machen sich auf den Weg zur Kirche. Im Vorbeigehen bewerfen einige Schüler uns mit Tannenzapfen.
    Die Dorfbewohner strömen in die Kirche. Zugleich schleicht Goody Pruett sich davon. Als Einzige bewegt sie sich gegen den Strom, was nicht unbemerkt bleibt: So mancher dreht sich verwundert nach ihr um. In wenigen Minuten schon wird der Spuk vorbei sein und alle werden die Kirche wieder verlassen.
    Jetzt steht sie auf der Wiese und sieht uns erwartungsvoll an. Sie nickt mir aufmunternd zu, ihre Käferaugen leuchten.
    Schon bald spuckt die Kirche ihre Besucher wieder aus. Die gesamte Gruppe kommt auf uns zu. Die Zuspätgekommenen von außerhalb schließen sich der Gruppe an.
    Ich kann die Panik nicht unterdrücken. Was habe ich getan.
    »Judith«, sagst du. »Ich glaube dir.«
    XVIII
    »Was hat das zu bedeuten?«, will Reverend Frye wissen. »Wer hat die Glocken geläutet?« Er und die Dorfältesten h aben die restlichen Bewohner eingeholt. Ohne die schwa rzen Roben wirken sie gar nicht so angsteinflößend. Die Kälte färbt ihre Nasenspitzen rot.
    »Ich war es«, bekennt Goody Pruett. »Miss Finch hat etwas zu sagen.«
    Damit hat niemand gerechnet. Niemand sagt etwas.
    Maria sieht mich eindringlich an. Sie ist blass und aufgequollen. In diesem Augenblick wird mir klar, dass sie ein Kind erwartet.
    Goody Pruetts Beobachtungsgabe färbt wohl auf mich ab.
    Ich will Marias Baby einen Kuss geben, wenn es getauft wird.
    Und ich will, dass sie eines Tages meinem Baby einen Kuss gibt.
    Auf der Straße kommen Darrel und Mutter. Mutter bleibt stehen, als sie die Zusammenkunft auf dem Dorfplatz sieht. Dann will sie umkehren. Darrel packt sie am Arm und humpelt vorwärts. Mutter folgt ihm widerwillig.
    »Das ist lächerlich«, findet der Dorfälteste Stevens. »Wir alle wissen, dass sie nicht sprechen kann.«
    »Pratt sagt, sie könne es«, sagt Dorfvorsteher Brown. »Nun, junge Frau?«
    Ich schlucke mehrmals. Mein Hals schmerzt. Ich kann ihren Blicken nicht entkommen. Ich bin gefangen.
    Und das ist das erste Problem.
    »Lassen Ssie unss frei«, sage ich. Die Umstehenden starren mich mit offenen Mündern an. »Ich werde Ihnen allen die Wahrheit über Lottie Pratts Tod erzählen. Ich war dabei. Ich habe gesehen, wass passiert isth.«
    XIX
    Rupert Gillis betrachtet mich mit großen Augen. Eine Welt, in der Judith Finch sprechen kann, passt ihm nicht.
    »Aber das ist lächerlich«, antwortet Abijah Pratt. »Sie ist einen Tag nach Lottie verschwunden.«
    »Aber bevor Lotties Leiche gefunden wurde«, bemerkt Dr. Brands.
    Stimmengewirr. Einige fordern, man möge uns freilassen, andere weisen darauf hin, die drei Stunden seien noch nicht zu Ende, wieder andere betonen, sie seien aber fast vorbei.
    Horace Bron öffnet meinen Pranger. Die Rückenschmerzen sind im Stehen unerträglich, aber es ist ein himmlisches Gefühl, die Arme fallen zu lassen. Ich stütze mich am Pranger ab. Endlich kann ich dein Gesicht sehen. Horace befreit auch dich. Jetzt stehst du neben mir.
    Jede Faser meines Körpers zittert. Alle starren mich an.
    Die Dorfältesten sind mit Horaces Entscheidung nicht zufrieden. Dorfvorsteher Brown hat noch kein abschließendes Urteil gesprochen, aber er lässt mich keine Sekunde aus den Augen.
    »Miss Finch, warum haben Sie vor uns geheim gehalten, dass Sie sprechen können?«, will er wissen.
    Maria antwortet: »Das hat sie nicht getan. Ich übe erst seit Kurzem mit ihr. Davor konnte sie wirklich nicht sprechen. Besser gesagt, sie wusste nicht, dass sie es konnte.«
    Darrel sieht Mutter ernst an und fügt hinzu: »Mutter hatte es ihr verboten«. Schockiertes Getuschel.
    »Nun, Miss Finch, dann sprechen Sie jetzt, falls Sie möchten«, fordert Dorfvorsteher Brown.
    Du stehst neben mir und gibst mir Kraft.
    Ich werde sprechen, obwohl meine Sprache plump klingt. Ich werde Worte gebrauchen, die mir lange versagt waren, und werde mich nicht für ihren ungeschlachten Klang entschuldigen. Die Leute werden hören, was sie hören wollen.
    XX
    Die Wahrheit trifft mich wie ein Glockenschlag.
    Endlich begreife ich. Er nahm mir die Stimme, um mich zu retten.
    Und jetzt rette ich mich selbst, indem ich sie mir zurückhole.
    XXI
    Wir berühren einander nicht, aber deine Stärke hält mich aufrecht.
    »Lottie und ich waren Freundinnen.«
    Ich mache eine Pause und beobachte, wie die Leute auf meine Sprache reagieren.
    »Wir haben uns oft unterhalten. Als sie verschwandh, war sie fünfzehn.
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