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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst
Autoren: Stephan M. Rother
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habe wirklich gedacht, dass aus uns, aus dir und mir …» Er schüttelte den Kopf. «Aber ich hab’s kaputt gemacht.»
    «Nein.» Ich sah ihn an. «Das hast du nicht. Ich habe immer gewusst, wohin ich gehöre.»
    Er betrachtete mich. Vielleicht war es nur ein Augenblick, doch er schien Stunden zu dauern.
    Bitte, dachte ich. Bitte frag jetzt nicht, ob wir Freunde bleiben können.
    Doch er sah mich nur an und nickte dann knapp.
    «Dann sehe ich dich, wenn du mal wieder in meine Arme stolperst? Oder an einem meiner Mandanten dransitzt?»
    «So …» Ich kämpfte um einen sicheren Tonfall. «So wird es wohl sein.»
    Er nickte noch einmal, ganz langsam.
    Ein letzter Blick, die Andeutung eines Lächelns.
    Sein Mantel bauschte sich im Novemberwind, als er sich umdrehte und über die Brücke davonging, ohne sich noch einmal umzusehen.
    «Bis …», flüsterte ich. «Bis zum nächsten Mal.»
    ***
    «Herr Bürgermeister?»
    «Der Name ist Schultz!»
    Jörg Albrecht ließ sich nieder. Klaviermusik aus unsichtbarer Quelle, Rotwein in großen Gläsern. Die schwarzen Schachfiguren diesmal auf seiner Seite des Tisches, umwabert von den aufsteigenden Niktotinschwaden.
    Es war der letzte Dienstag im Monat.
    In jeder Hinsicht, die den Hauptkommissar betraf, waren die Untersuchungen wegen des Todes zweier seiner Mitarbeiter abgeschlossen.
    Der bevorstehende Aufenthalt im Sanatorium war nichts als eine beiläufige Bösartigkeit der Lorentz. Er würde ihn mit Anstand hinter sich bringen.
    Was noch offen war, würde er mit sich selbst ausmachen.
    Pompeji, dachte Jörg Albrecht, als er in den Wein blickte.
    War es eine Gnade des menschlichen Bewusstseins, die bestimmte Erinnerungen unter der Aschedecke des Traumas verbarg?
    Dann handelte es sich um eine Gnade, für die der betreffende Verstand entsprechend strukturiert sein musste.
    Jörg Albrecht konnte sich die Bilder nach Belieben selbstquälerisch vor Augen rufen.
    Die Kolloquiumsrunde im Institut. Die Weinpinte in der Braunschweiger Altstadt mit dem verwirrenden Spiel der Lichter und Schatten auf Majas Gesicht. Die Zisternenkammer, wo die gemeißelten Züge der jungen Frau zerflossen waren wie Wasser, als er den Stab über ihr gebrochen hatte.
    Er hatte diesen Bildern in jener Ecke seines Verstandes einen Ehrenplatz zugewiesen, in der sie den Abenteuern der Spinnenbande Gesellschaft leisten konnten.
    Das war seine persönliche Art des Traumas: Die Bilder würden zugänglich bleiben. Präzise und unveränderlich, ganz gleich wie oft er sie betrachtete.
    Die Schuld.
    Jörg Albrechts Schuld würde bleiben.
    Heiner Schultz schwieg. Die hellwachen kleinen Augen betrachteten den Hauptkommissar.
    Albrecht wusste, dass Schultz nicht von selbst auf die Geschehnisse zu sprechen kommen würde, obwohl er natürlich über die Ereignisse im Bilde sein musste. Der alte Mann verfolgte keine Radio- und Fernsehnachrichten mehr – doch die Berichterstattung über die
Schwarze Hexe von Braunschweig
hatte auch die Seiten sämtlicher Zeitungen gefüllt.
    Schultz würde schweigen. Fragen, die sich nicht stellten.
    «Womit haben Sie die vergangenen Wochen verbracht, Herr Bürgermeister?», erkundigte sich Albrecht.
    Lungenzug.
    «Ich habe gelesen.» Ein Griff unter den Tisch, wo der alte Mann seine aktuelle Lektüre verwahrte. Ein Büchlein von eher bescheidenem Umfang. «Boethius», erklärte Schultz. «
Der Trost der Philosophie
. Das Werk ist bekannt?»
    Albrecht legte die Stirn in Falten. «Das muss ein halbes Leben her sein …» Er betrachtete sein Gegenüber. Ein halbes Leben war relativ. «Zumindest einige Jahrzehnte», präzisierte er. «In meiner Schulzeit.»
    «Ich hole dieses Buch hin und wieder hervor.» Eine altersfleckige Hand strich über den Umschlag. «Ähnlich wie Marc Aurel – oder andere. Ich empfinde es als hilfreich dabei, die eigene Position zu überdenken. Sie einzuordnen.»
    «Inwiefern?»
    «Sehen Sie …» Die Zigarette wanderte gedankenverloren zum Aschenbecher und wurde für einen letzten Zug zurückgezogen, bevor der alte Mann die Glut erstickte. «Dieses Büchlein ist annähernd anderthalb Jahrtausende alt. Boethius stammte aus einer der alten Familien des römischen Adels und hatte es selbst zu beträchtlichem Ansehen gebracht – bis zum großen Bruch in seiner Biographie. Diese Schrift hat er im Gefängnis verfasst, während er auf seine Hinrichtung wartete.»
    «Schuldig?»
    Albrechts Frage war ein Reflex.
    «Die Schuldfrage müssen die Leute beantworten, die
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