Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich bin dann mal offline

Ich bin dann mal offline

Titel: Ich bin dann mal offline
Autoren: Christoph Koch
Vom Netzwerk:
von vermeintlichen Kleinigkeiten wie Gestik, Mimik und Verhalten ablesen, ob diese Person ruhig oder nervös, fröhlich oder traurig, gutgelaunt oder verärgert ist.
    Diese Art, über den anderen digital im Bild zu bleiben, ermöglicht es uns beispielsweise, alte Freunde auch nach langer Zeit wiederzutreffen und sofort wieder ein Gefühl der Vertrautheit zu spüren, wohingegen man früher vielleicht erst wieder eine gewisse Anlaufphase gebraucht hätte. Damals musste man sich zwei Biere lang erst mal wieder »auf den aktuellen Stand bringen«. Und nur zu oft wurde einem gerade durch Sätze wie »Ach, ihr seid gar nicht mehr zusammen?« oder »Wie, ich dachte, du wohnst immer noch in Hamburg« schmerzlich bewusst, wie weit man sich voneinander entfernt hatte. Heute bekommt man alle wichtigen und unwichtigen Facts (Umzug nach Bremen, Trennung von Stephanie, hat mit Tennis angefangen, mag die TV-Serie »Californication«) nach und nach ganz nebenbei mit -und wenn man sich einmal im Jahr trifft, hat man das Gefühl, sich erst letzte Woche voneinander verabschiedet zu haben.
    »Schon richtig«, unterbricht Dirk meinen schwärmerischen Monolog. »Aber es gibt auch genügend Sachen, die gewaltig nerven. Zum Beispiel wenn Freunde, die früher angerufen haben, wenn sie in deiner Stadt waren, plötzlich nur noch eine Status-Meldung schreiben: Bin nächste Woche Da-Mo in Berlin -wer hat Zeit, wer hat Bock? An derart unpersönlicher Massenkommunikation habe ich kein Interesse, da antworte ich nicht. Außerdem: Richtig aufrichtig ist die Kommunikation auf Seiten wie Facebook doch auch nie. Da schreibt doch niemand, dass es ihm wirklich schlecht geht und er sich in Therapie begibt. Oder dass sich gerade er entschieden hat, weiterhin fremdzugehen.«
    »Das möchte ich bei den meisten meiner FacebookFreunde aber auch nicht unbedingt so genau wissen«, halte ich dagegen. »Denn man muss sich schließlich klarmachen, dass es sich bei den 200
    bis 300 Leute n4, die man auf seiner FreundesIiste hat, nicht um Freunde im traditionellen Sinne handelt. Sondern allenfalls um Menschen, die man vielleicht einmal getroffen hat und die man nicht völlig bescheuert fand.«
    »Stimmt. Oder die man tatsächlich völlig bescheuert fand, aber trotzdem nicht den Mut hatte, ihre Freundschaftsanfrage abzulehnen, die sie einen Tag später geschickt haben.«
    Am Ende einigen wir uns darauf, dass sich die Intensität von OnIine-Freundschaften vielleicht wie folgt zusammen
    fassen lässt: Fragt man seine virtuelle Freundesschar, wer einem einen guten Zahnarzt oder eine gute Digitalkamera empfehlen kann, bekommt man vermutlich ganz hilfreiche Rückmeldungen. Wer sich aber bei seinem Umzug ausschließlich auf eine Freundeskreis-Rundmail Marke »Wer hilft mir am 4 Eine Studie der Stanford University fand heraus, dass der durchschnittliche Facebook-Nutzer 281 Menschen in seiner Freundesliste hat und beabsichtigt, diese Zahl in der nächsten Zeit auf durchschnittlich 317 zu erhöhen. Die Nutzer des japanischen Äquivalents Mixi hatten im Durchschnitt 58 Freunde -planten jedOch, diese Zahl auf 49 zu reduzieren. Samstag beim Umzug? Kaufe danach auch Pizza!« verlässt, wird in der Woche danach mit ziemlicher Sicherheit eine Rundmail schreiben, in der er um Empfehlung eines guten Orthopäden bittet. Wir einigen uns weiterhin darauf, auch nach Ende meines Selbstversuchs mal wieder öfter miteinander zu telefonieren. Einfach so, ohne Anlass, ohne Grund. Zum Spaß. Phantomvibrationen
    Um Mittag zu essen, gehe ich in eine nahegelegene Pizzeria -zum ersten Mal seit Jahren, ohne meine beiden Mobiltelefone mitzunehmen. Zu behaupten, ich würde mich nackt fühlen, wäre eine charmante Untertreibung. Während ich dasitze und auf meine Pizza warte, wird mir klar, was ein ganz entscheidender Faktor zumindest meiner Sucht nach Erreichbarkeit und Verbundensein mit den Netzwerken dieser Welt ist: die Angst, etwas zu verpassen. Das Gefühl, die Welt könne sich nicht ohne das eigene Zutun weiterdrehen -und die noch viel größere Angst, sie könne es eben doch! Die schreckliche Gewissheit, dass alle gut zurechtkommen, ohne dass man seinen digitalen Senf dazu gibt. Dass alle einfach weitermachen, ohne mich »cc zu setzen«.
    Aber was, wenn nicht? Was, wenn mich jemand erreichen will, der eine wirklich wichtige, wirklich gute Nachricht für mich hätte? Zugegeben, so häufig kommt das nun auch nicht vor -die meisten Anrufe und Mails liegen bei mir wie wohl bei fast allen Menschen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher