Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich bin dann mal offline

Ich bin dann mal offline

Titel: Ich bin dann mal offline
Autoren: Christoph Koch
Vom Netzwerk:
Das erste Dilemma
    Ich beschließe, meinen alten Freund Dirk anzurufen. Mal hallo sagen, hören, was der so im Schilde führt, sich endlich mal wieder in Ruhe unterhalten. Macht man ja sonst nie. Der wird staunen. Doch noch bevor ich meinen ersten Triumph in Sachen Kommunikation feiern kann, kommt ein herber Rückschlag: Dirks Nummer ist -wie alle anderen -natürlich in meinem Mobiltelefon gespeichert. Im Kopf habe ich nur noch die Festnetznummer meines
    Vaters, und auch das nur, weil es früher meine eigene war. Damals, als man sich Telefonnummern noch merken musste. Ich krame ein altes Adressbuch raus, in das ich früher Telefonnummern von Freunden und Bekannten mit Hand eingetragen habe. Die von Dirk ist dummerweise nicht darunter. Der erste Tag meines Selbstversuchs ist noch nicht einmal zur Hälfte um, und schon stehe ich vor einem ethischen Dilemma: Festnetz ist zwar erlaubt, Mobiltelefon aber verboten. Darf ich das Handy benutzen, um eine Nummer nachzuschauen, die ich dann per Festnetz anrufe? Ich nehme es genau und beschließe, den ethisch wertvollen, aber auch kostspieligen Weg zu wählen und rufe die Auskunft an. Es kommen bestimmt noch genug Momente, in denen ich froh sein werde, ein paar Karmapunkte übrig zu haben und ein bissehen schummeln zu können. Dirk freut sich, dass ich anrufe, aber ich bemerke auch die Irritation in seiner Stimme, als ich auf seine Frage »Was gibt's?« keine rechte Antwort parat habe. Kein Anliegen, keine Frage, keine wichtigen Neuigkeiten, die einen Anruf erklären oder rechtfertigen würden. Einfach nur der Wunsch nach einem Gespräch zwischen Freunden und -wenn ich ganz ehrlich bin -natürlich auch die entzugsbedingte Langeweile. Nachdem wir eine Weile geplaudert haben, finde ich es unredlich, ihm nicht von meinem Selbstversuch zu erzählen, und gestehe, dass ich ihn vor allem deswegen angerufen habe, weil ich mich nicht wie sonst um diese Zeit einmal quer durchs gesamte Internet klicken kann -und wieder zurück. Er versteht mich zum Glück sehr gut. Für ihn wäre so ein Verzicht unvorstellbar: »Das könnte ich nie« ist seine Einschätzung -nahezu identisch mit der aller anderen Menschen meines Alters, denen ich davon erzählt habe.
    Doch auch Dirk erkennt die positiven Seiten meiner selbstgewählten Abstinenz. »Ich merke schon, dass sich beispielsweise durch Facebook die Qualität meiner Freundschaften in der Masse geändert hat«, sagt er. »Bei den ganz engen Freunden am wenigsten, aber bei den loseren Kontakten, den guten Bekannten, hat sich vieles verschoben. Wenn sie auf Facebook aktiv sind, weiß ich über manchen alten Klassenkameraden mehr als über aktuelle Freunde, die sich vielleicht nur selten melden. Es sind zwar meistens nur kleine Infohappen, wie hier ein paar Urlaubsfotos und dort eine kurze Nachricht wie >Mann, die Erkältung könnte auch mal aufhören<, aber in der Summe bekommt man doch ein ganz gutes Bild davon, wie es den Leuten so geht und was sie beschäftigt. Das finde ich einerseits schön, andererseits macht es auch einen Anruf wie deinen heute überflüssig, in dem man sich einfach nur nach dem Befinden des anderen erkundigt. Man weiß ja im Grunde alles.«
    Wie Banalitäten ein Bild ergeben
    Das Phänomen, das Dirk beschreibt, hat der amerikanische Wissenschaftsjournalist Clive Thompson
    »Ambient Awareness« 3 getauft. Das heißt übersetzt in etwa: »Umgebungswahrnehmung« und bedeutet im Grunde nichts anderes, als dass die vielen kleinen Onlinebotschaften, die wir auf Facebook, StudiVZ, Twitter oder www.wer-kennt-wen. de von unseren Freunden lesen (»Noch fünf Tage bis zum Urlaub -juhu!«/»Suche zuverlässige Tennis-Rückhand im
    Tausch gegen geräumige Altbauwohnung in der Münchner Innenstadt«) nur scheinbar banal sind. Über einen längeren Zeitraum hinweg, ergeben sie nämlich ein zusammenhängendes Bild, addieren sich die vielen winzigen und beiläufigen Informationen zu einem aussagekräftigen Ganzen -und wir bekommen so eine Vorstellung davon, wie es dem anderen gerade ergeht, was ihn beschäftigt, was ihm wichtig ist. Thompson vergleicht dieses Phänomen mit einer Situation, in der sich eine andere Person mit uns im selben Raum befindet: Selbst wenn wir nicht direkt mit ihr kommunizieren, neh3 Die britische Online-Designerin Leisa Reichelt spricht vielleicht noch treffender von ..Ambient Intimacy« -also zu deutsch ungefähr .. Umgebungsintimität«.
    men wir dennoch aus dem Augenwinkel heraus·ihre Körpersprache war, können
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher