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Ich beschütze dich

Ich beschütze dich

Titel: Ich beschütze dich
Autoren: Penny Hancock
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3D-Puzzles, die nur zusammen ein vollständiges, makelloses Ganzes ergaben. An dieses Gefühl erinnere ich mich am deutlichsten, als ich dem gleichen Weg folge, den ich damals über den Fußweg zu unserem Haus gelaufen bin. An unsere vereinten Körper, warm von der Sonne, leicht klebrig von den Abwässern im Fluss und nach Schlamm riechend.
    Ich habe Seb geliebt, das muss ich wohl nicht erst sagen. Für mich war er das schönste Wesen, das es gab. An diesem Tag auf dem Lastkahn habe ich auf sein Gesicht hinabgeblickt und mich gefragt, wie jemand so vollkommen geschaffen sein konnte. Er hatte große, mandelförmige, blaue Augen und Lippen, die ständig so rot aussahen, als hätte er gerade Erdbeereis am Stiel gegessen. Seine Mundwinkel zeigten nach unten, als wären ihm alle Menschen zu dumm, als würde er darauf warten, dass die Welt endlich mit ihm gleichzog. Ich spürte seine kantigen Hüftknochen, die sich direkt unter meinen in mein Fleisch drückten, seine warme Haut über den Rippenbögen, die sich zwischen meine fügten, und meine noch kaum weiche Brust, die sich an seine schmiegte.
    »Leg dich unter mich«, sagte er nach einiger Zeit, also drehten wir uns herum. Vage kam mir der Gedanke, dass ich ihn vielleicht aufhalten sollte. Ich wand mich unter ihm und versuchte, ihn von mir zu stoßen. Aber ich erinnere mich bis heute an das warme Holzdeck des Kahns unter meinem Rücken, während er mich in den Armen hielt, und an das Geräusch seines Atems in meinem Ohr.
    Besorgt und angespannt erreiche ich das Flusshaus. Was, wenn Jez schon aufgewacht ist? Wenn er gegangen ist, bevor ich mich ordentlich verabschieden konnte? Ich hätte ihn nicht allein lassen dürfen.
    In meiner Manteltasche umklammere ich Mutters Flurazepam und reibe mit dem Daumen darüber. Ich laufe die Stufen in den ersten Stock hinauf, dann die steile Treppe zu dem Absatz vor dem Musikzimmer. Durch die schmalen Oberlichter unter der Decke fällt Licht herein. Als ich die Klinke herunterdrücke und die Tür öffne, wage ich kaum zu hoffen.
    Er ist da. Noch immer benommen, aber er hat die Augen geöffnet.
    Ich gehe direkt zu ihm und setze mich auf das Bett.
    »Du bist umgekippt.«
    »Was?«
    »Gestern Abend. Nach ein paar Gläsern Wein zu viel.«
    Ich betrachte ihn. Ein Prinz, der aus einem hundertjährigen Schlaf erwacht. Er versucht, den Kopf zu heben, runzelt die Stirn und gibt es schließlich auf.
    »Ist schon gut. Du bist im Flusshaus. Weißt du noch?«
    »Ach du Scheiße!«
    »Keine Sorge. Wir trinken alle mal zu viel, das kannst du mir glauben. Das kann jedem passieren.«
    »Wie spät ist es? Mein Zug geht um halb elf.«
    »Ach, halb elf ist längst vorbei! Aber es fahren noch genug andere Züge. Wir sagen allen Bescheid, aber eins nach dem anderen.«
    »Mir ist schlecht.«
    Das Licht ist ihm zu grell, er kneift die Augen zusammen und stützt sich auf einen Ellbogen.
    »Du musst etwas trinken. Hier.«
    Ich nehme das Glas vom Nachttisch, halte es ihm an die Lippen und beobachte, wie sie feucht werden, als er einen Schluck trinkt. Ein Wassertropfen verfängt sich in den knabenhaften Stoppeln auf seiner Oberlippe. Er funkelt silbrig, bevor Jez ihn ableckt.
    »Verdammt. Was zum Teufel haben wir gestern Abend getrunken?«
    Obwohl er den Stimmbruch längst hinter sich hat, hört er sich nicht wie ein Erwachsener an. Seine Stimme klingt noch kindlich. Er schließt die Augen und lässt den Kopf wieder auf das Kissen sinken.
    »Du fängst dich schon wieder. In einer halben Stunde bringe ich dir Bagels und Kaffee. Da drin kannst du duschen.« Ich deute mit dem Kopf auf das angeschlossene Badezimmer. »Wie trinkst du deinen Kaffee?«
    Er sieht wieder zu mir auf, das Gesicht zerknautscht, aber die Haut noch ganz fein, wie gewellte Seide. Volle Lippen. Mick-Jagger-Lippen. Sängerlippen. Irgendwann, das kann ich schon sehen, wird er diese Falten zwischen Nase und Lippen bekommen, die Rocksänger haben. Seb hätte sie auch bekommen.
    »Stark. Nicht zu viel Milch. Zwei Löffel Zucker.«
    Es ist schön dazustehen und ihn anzusehen, doch ich will ihn nicht beunruhigen.
    »Ich gehe runter und mache Frühstück.«
    »Ich habe Alicia gar keine SMS geschickt. Meine Mutter habe ich auch nicht angerufen«, sagt er, als ich an der Tür bin. Ein Glück, denn es erinnert mich an das Handy in seiner Lederjacke, die in der Küche über einer Stuhllehne hängt.
    »Alles zu seiner Zeit«, sage ich ihm. »Erst mal musst du auf die Beine kommen.« Ich ziehe die Tür hinter
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