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Icarus

Icarus

Titel: Icarus
Autoren: Russell Andrews
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einziger Körper, und den Bruchteil einer Sekunde, bevor der Mann sprang, tat Jack das gleiche, nur sprang er in die entgegengesetzte Richtung, zum Gebäude, streckte die Arme aus und griff mit den Händen nach dem Rahmen des zerbrochenen Fensters. Seine Finger packten zu, und er spürte ein heißes, scharfes Brennen, sah Blut fließen, sein Blut, als die Scherben im Rahmen in seine kleinen Hände schnitten, aber er ließ nicht los. Er spürte, wie der Mann an ihm vorbeistürzte, sah ihn verschwinden, und jetzt rutschte Jack. Er konnte nichts dagegen tun. Die Schmerzen und das Blut machten es ihm unmöglich, sich zu halten. Er hatte nicht die Kraft, sich hochzuziehen, und eine Hand löste sich vom Gebäude, und jetzt rutschte auch die andere, sie gab nach, er konnte es nicht aufhalten, er fiel, er war weg …
    Doch dann hielt ihn jemand fest, hatte sein Handgelenk gepackt. Hielt ihn ganz fest, zog ihn wieder hoch, und dann geschah ein Wunder, denn er war wieder drin. Er baumelte nicht mehr über der Straße, er befand sich auf sicherem Boden, und eine vertraute rauhe Stimme sagte ihm, daß alles in Ordnung sei, daß er keine Angst mehr zu haben brauchte. Daß alles vorüber und er in Sicherheit war.
    Jack umschlang Doms Hals und weinte und drückte ihn. Er spürte, wie Dom ihn jetzt hochhob und losrannte. Er hörte Dom sagen: Es ist alles gut, es ist vorbei, wir bringen dich zum Arzt, und du kommst wieder in Ordnung, und Jack glaubte ihm. Er schloß die Augen, denn plötzlich konnte er sie nicht mehr offenhalten, und irgendwie wußte er, daß sie wieder im Fahrstuhl waren. Während er das Summen des Aufzugs hörte, als er nach unten sank, hatte Jack keine Ahnung, was nun geschehen würde. Ihm wurde klar, daß seine Mutter tot war und der böse Mann auch. Er war bei Dom, auch das begriff er, und irgendwie war das in Ordnung, Dom würde ihn beschützen. Er erinnerte sich, daß der Tag so schön, so einzigartig begonnen hatte, und er begriff nicht, wußte nicht, ob er jemals begreifen würde, wie er so schlimm hatte enden können. Und ehe die Fahrstuhltüren aufglitten, ehe die Polizisten und die Medien und die Sanitäter und die Menschenmenge, die sich auf der Straße angesammelt hatte, zu reden und zu rufen und zu fotografieren begannen und ihn in eine Decke hüllten und wegtrugen, wurde Jack eins ganz klar: Für den Rest seines Lebens, solange er lebte, für immer und ewig, würde dies das Schlimmste sein, das ihm jemals zustoßen sollte.
    Jack Keller, gerade zehn Jahre alt, wußte es ohne auch nur den Anflug eines Zweifels, mit absoluter Gewißheit, und das war sein einziger Trost. Nie mehr könnte er derart verletzt werden. Niemals mehr würde er so schrecklich leiden, würde er diesen Schmerz oder Verlust oder lähmenden Schrecken erleben.
    Er wußte es einfach.
    Doch er irrte sich.
    Und viele Jahre später, als das Grauen zurückkehrte, als der Schmerz noch schlimmer und das Leiden unvorstellbar war, begriff Jack, wie sehr er sich geirrt hatte.

BUCH ZWEI

    Der zweite Fall
    1979-2000

Zwei
    Jack Keller war zwanzig Jahre alt, als er zum erstenmal glaubte, er könnte sich ernsthaft verlieben.
    Er war in Caroline Hale vernarrt, seit er sie das erste Mal in einem Psychologie-Seminar, sieben Plätze weiter links und drei Reihen hinter sich, gesehen hatte. Natürlich war Ende der siebziger Jahre fast jedes männliche Wesen auf dem Campus der Columbia University heimlich in Caroline verliebt. Er war absolut nicht der einzige, der sich während dieser Vorlesungsreihe immer wieder umdrehte und sie anstarrte. Sie war aber auch jeden Blick wert.
    Und es war nicht nur ihre natürliche Schönheit, obgleich das allein Grund genug war, Grund genug, sich jeden Tag im Hörsaal den Hals zu verrenken, um sie verstohlen zu betrachten. Er konnte sie nicht oft genug ansehen. Ihr Gesicht war markant, aber zugleich weich und bezaubernd. Hohe Wangenknochen und Lippen, die einfach perfekt waren, nicht zu dünn, nicht zu üppig. Ernste Augen, die sich je nach Umgebung zu verändern schienen, manchmal strahlend blau, dann wieder melancholisch grau, sogar lebhaft violett. Ihr Haar war dunkelbraun und glatt, so lang, daß es ihre Schultern berührte, manchmal zu einem Pferdeschwanz zusammengerafft, mit dem sie aussah wie eine Siebenjährige. Ihre Beine waren lang und muskulös und sonnengebräunt und ansehnlich. Gewöhnlich kamen sie unter einem kurzen Rock hervor, und ihre Art, sie übereinanderzuschlagen – vor allem, wenn sie sich auf
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