Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Icarus

Icarus

Titel: Icarus
Autoren: Russell Andrews
Vom Netzwerk:
schleuderte ihn durch die Luft, direkt auf das Fenster zu, vor dem Jack stand. Joan verfolgte ungläubig, wie der Stuhl gegen die Scheibe krachte, sie zerschmetterte – es war der schrecklichste Lärm, den sie je gehört hatte
    – und dann hindurchbrach. Er segelte aus dem Fenster hinaus, gefolgt von einer Kaskade aus tausend winzigen, funkelnden Scherben.
    Sie lief zu Jack, schrie ihn an, sofort zu fliehen, sich zu beeilen, einfach nur wegzulaufen, aber dann kam sie nicht weiter, etwas hielt sie fest. Sie wurde hochgehoben und hörte ihren Sohn kreischen: »Mom! Mommy! Mommyyyy …«
    Zuerst begriff sie nicht, dann wußte sie, was geschehen würde, was dieser Irre vorhatte. Sie schrie nach ihrem Sohn, wurde hysterisch. Aber es war ihr egal, sie wollte nicht sterben, nicht so, also schrie sie weiter: »Hilf mir! Hilf mir, Jack! Um Gottes willen, hilf mir!«
    Jack sah, wie der Mann seine Mutter hochhob und zum zertrümmerten Fenster trug. Das Loch, das der Stuhl hinterlassen hatte, sah aus wie eine Wunde im Glas. Er sah, wie seine Mom um sich trat und schlug und sogar zu beißen versuchte, aber der Mann schien von alledem nichts zu spüren. Jack hörte sie schreien, ihn anflehen, ihr zu helfen. Er war gut einen halben Meter vom Fenster entfernt, er konnte die Luft fühlen, die herein-und hinauswehte, konnte tief unten Autohupen hören und die Rufe von Leuten, die heraufschauten. Das Atmen war so schwer, er hatte solche Magenschmerzen, er wollte nichts anderes als weglaufen, aber er konnte es nicht. Seine Mutter schrie, er konnte sie nicht im Stich lassen, er mußte etwas tun, und er mußte es gleich tun, denn sie waren jetzt näher gekommen. Der Mann war fast am Fenster, Jack konnte ihn erreichen und ihn berühren …
    Hilf mir, Jack! Du mußt mir helfen.
    Er wußte nicht, was geschehen würde, es war das erste Mal, daß er es versuchte, aber etwas anderes fiel ihm nicht ein, und so warf Jack sich nach vorn, geduckt, die Schultern nach unten, und griff an, genau so, wie Hornung es im Fernsehen gemacht hatte, als er für Taylor blockte, und er traf den Mann in Kniehöhe, genau so, wie er es beabsichtigt hatte …
    Jack, hilf mir!
    Der Mann schaute auf ihn herab, überrascht, daß er da war, als hätte er von Jacks Versuch, ihn aufzuhalten und ihm die Beine wegzuschlagen, gar nichts bemerkt. Jack versuchte es abermals, ächzte, als er gegen die knochigen Schienbeine des Mannes prallte, aber es bewirkte überhaupt nichts. Er war zu leicht und zu jung und zu schwach und …
    Der Mann hob jetzt die Arme. Jack konnte sehen, wie die Augen seiner Mutter sich weiteten, er konnte direkt in sie hineinblicken, bis in ihre Seele, und spürte ihr blankes, grenzenloses Entsetzen.
    Er wollte den Mann erneut attackieren, wollte gegen ihn anrennen und ihn umwerfen, aber er war jetzt wie gelähmt, denn er ahnte, daß es zwecklos war. Er war hilflos.
    Sie wand sich im Griff des Mannes, schlug ihn, kratzte mit ihren Fingernägeln, aber der Koloß veränderte noch nicht einmal seinen Gesichtsausdruck. Er erreichte das Fenster, und Jack wollte die Augen schließen, aber auch das gelang ihm nicht, er konnte nur untätig zusehen, wie der Mann seine Mutter vor das große, gezackte Loch hielt. Sie drehte den Kopf, um zu Jack zu blicken, flehend, den Mund offen, aus dem Speichel in langen, nassen Fäden auf den Fußboden rann, und sie schrie nicht mehr, sie war jetzt stumm. Stumm und mit weit aufgerissenen Augen und starrem Blick ihn anflehend, ihr zu helfen.
    Er wollte ihren Blick erwidern. Wollte sagen: Ich will doch! Ich will dich doch retten! Aber ich kann nicht! Ich hab’s versucht, ich schwöre bei Gott, ich hab’s versucht, aber ich kann nicht! Doch er machte nicht den Mund auf. Auch er war stumm, denn er begriff, daß Worte nutzlos waren.
    Sie blieb stumm. Seine Mutter sagte nichts mehr. Sie starrte Jack an, der in ihrem Gesicht nur die Liebe und Vergebung und die Verzweiflung und, schließlich, die Traurigkeit sehen konnte, während der Mann ausholte und Joan Keller durch das zerschmetterte Fenster im siebzehnten Stock warf.
    Reggie Ivers überlegte angestrengt, wo er war. Er konnte sich nicht zusammenreimen, weshalb er vor diesem zerbrochenen Fenster stand und weshalb da dieser kleine, entsetzte Junge neben ihm kauerte. Er wußte, daß er niemals etwas tun würde, um so einem kleinen Jungen Angst einzujagen. Was also ging hier vor?
    Seine Verwirrung nahm zu, als er einen Schritt in Richtung des kleinen Jungen machte und der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher