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Icarus

Icarus

Titel: Icarus
Autoren: Russell Andrews
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den Fahrstuhl nicht gehört, wußte also nicht, daß er schon da war. Die Beleuchtung war zur Hälfte gelöscht, und es sah so aus, als wäre kaum noch jemand hier. Es war kurz nach sechs, die ganze Etage lag im Halbdunkel, und es war ziemlich unheimlich. Jack wußte, daß er es eigentlich nicht tun sollte, aber er konnte nicht widerstehen. Er schlich sich an, bis er dicht hinter ihr stand – sie hörte absolut nichts –, umschlang dann ihre Taille und sagte: »Buuhh!«
    Seine Mutter sprang etwa einen Meter in die Höhe und wirbelte herum. Aber sie war ihm nicht böse. Sie sagte: »O mein Gott! Du hast mich zu Tode erschreckt!« Dann umarmte sie ihn, drückte ihn an sich und küßte ihn. Gewöhnlich umarmte sie ihn nie so lange, daher rannte er, als sie ihn losließ, quer durch den Raum schnurstracks zu einem der großen Fenster. Er breitete die Arme aus, spreizte die Beine und preßte sich gegen die Glasscheibe. Dann rief er: »Sieh mal, ich fliege, Mom, ich fliege!«
    Sie lächelte ihn an, aber er fand, sie wirkte ein wenig … wie hieß das Wort, das sie manchmal benutzte? … nervös. So als hätte sie etwas Wichtiges zu erledigen und wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen.
    »Was ist los, Mom?« fragte er. Er ließ die Arme sinken, schob die Füße zusammen und machte einen Schritt vom Fenster weg auf sie zu. »Was es auch ist …«
    Er wollte sagen: »… es ist okay«, aber er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn sie sah jetzt nicht ihn an, sie runzelte die Stirn und blickte nach links, zu den Fahrstühlen. Ein Mann war gerade herausgekommen und ging auf sie zu. Er sah irgendwie unheimlich aus, dachte Jack, und er roch schlecht. Der Mann war außerdem triefnaß, fast so, als wäre er geschwommen. Jack hatte noch nie jemanden gesehen, der so sehr schwitzte. Und die Kleider des Mannes waren schmutzig. Er hatte sich von oben bis unten mit irgend etwas bekleckert. Auf seinem Hemd und den Armen, auch an seinem Hals. Cola vielleicht. Nein, vielleicht auch nicht. Es hatte nicht ganz die Farbe von Cola.
    Der Mann kam näher, war nur noch ein paar Schritte von seiner Mutter entfernt. Jack sah, daß das klebrig aussehende Zeug ganz eindeutig nicht die Farbe von Coca Cola hatte. Es bedeckte den ganzen Mann. Sogar sein Gesicht und seine Schuhe.
    Und was immer es war, es war entsetzlich rot …
    »Sind Sie in Ordnung?« fragte Joanie. »Sie bluten.«
    Als der Mann aus dem Fahrstuhl stieg, begriff Joan, daß etwas Schreckliches im Gange war. Dieser Mann hätte gar nicht bis in ihr Stockwerk kommen dürfen. In seinen Augen lag eine Leere, ein beunruhigender Mangel an Menschlichkeit. Und er war mit Blut bedeckt, es tränkte förmlich seine Kleider. Zuerst dachte sie, er wäre verletzt, aber er ging nicht so, als wäre er verletzt, er schien ganz in Ordnung zu sein, und in diesem Moment begriff Joan: Es ist das Blut eines anderen.
    Und dann wußte sie auch, was immer da im Gange war, es würde mehr als schrecklich werden.
    »Kann ich Ihnen helfen?« Sie bemühte sich, ihre Stimme so ruhig wie möglich zu halten. Aber der Mann gab keine Antwort. Statt dessen drehte er den Kopf und überschaute das gesamte Büro. Sie sah Verwirrung in seiner Miene, dann Wut. Sie wußte nicht, warum er auf einmal wütend wurde, und es jagte ihr Angst ein. Er sagte noch immer nichts, schaute sie nicht direkt an. Er drehte nur den Kopf hin und her, als suche er etwas in dem leeren Büro und den ebenso leeren Besprechungszimmern. Joanie war erleichtert, denn vielleicht richtete die Wut sich nicht gegen sie, vielleicht galt sie jemandem, der bereits gegangen war. Vielleicht war das Ganze doch nicht so schlimm, wie sie annahm …
    »Suchen Sie jemanden?« Noch während sie die Frage aussprach, wußte sie, daß sie keine Antwort erhalten würde. Denn es war so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Sobald er sich umdrehte, um sie anzusehen, konnte sie es spüren. Der Geruch des Mannes war nun so stark, daß er das ganze Büro durchwehte. Es waren nicht nur Schweiß und Schmutz, er verströmte den Geruch von Gewalt, und Joan konnte in diesem Moment nur denken: Ich muß Jack rausbringen. Muß dafür sorgen, daß meinem Sohn nichts zustößt.
    Sie versuchte, Jacks Blick einzufangen, er würde ihr Zeichen verstehen, aber es war bereits zu spät, ihm ein Zeichen zu geben. Es war ihrer Kontrolle entglitten, denn der Mann hatte einen Stuhl hochgehoben, einen schweren Drehstuhl auf Rollen, hatte ihn hochgerissen, als wöge er nichts, und
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