Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Icarus

Icarus

Titel: Icarus
Autoren: Russell Andrews
Vom Netzwerk:
Minuten hatte er sich gegen die Fensterscheibe gedrückt und fliegen wollen. Nun weinte er und klebte an den Beinen des Wahnsinnigen, denn er wußte, daß er nicht fliegen konnte. Es war eine Phantasie, ein Traum, aber nicht der Traum von einem kleinen Jungen, der seiner Mutter einen Streich spielte, oder von einem verkleideten Superhelden, der die Erde rettete. Es war ein Alptraum, der kein glückliches Ende haben konnte. Er war nicht der glorreiche Icarus, sondern der mit den schmelzenden Flügeln hoch über der Erde auf einem Flug, der nur mit einem schrecklichen Fall enden konnte. Mit einem Mißerfolg. Mit der Traurigkeit und Angst, die er im Gesicht seiner Mutter gesehen hatte. Und mit dem Tod.
    Plötzlich humpelte der Mann zum Fenster, und Jack dachte: Was tut er, was nun? Dann spürte er, wie das Bein des Mannes ruckartig nach vorn schwang, und Jacks Augen weiteten sich, als er begriff, was geschah. Er drückte das Kinn auf die Brust, während seine Schulter und dann sein Rücken und die Seite seines Kopfs gegen das dicke Glas krachten, und Jack erinnerte sich, wie er einmal einen Baseball zurückgeschlagen und das Fenster eines Apartments zerschmettert hatte. So kam er sich jetzt vor, wie dieser Baseball, denn er wurde von weiteren Glasscherben überschüttet. Jack spürte scharfe Stiche an Armen und Hals, er sah weitere Glassplitter durch die Luft wirbeln und fallen, und der Mann holte erneut mit dem Bein aus, und wieder wurde Jack gegen das Glas geschleudert, und jetzt spürte er im Gesicht einen scharfen Windstoß und …
    Nein, nein, bitte nicht, dachte er. Bitte, das kann nicht wahr sein.
    Aber es war wahr. Er hörte Schreie von unten und spürte Hitze in seinen Körper dringen.
    Er befand sich außerhalb des Gebäudes.
    Er baumelte Dutzende Meter über dem Erdboden, und der Mann versuchte erneut, ihn abzuschütteln. Sein Bein schwang zurück und nach vorn und hoch und runter, es war, als ritte Jack auf einem bockenden Mustang, und er wußte, daß es falsch war, aber er konnte nicht anders und blickte hinunter. Er sah weitere Glasscherben vorbeiwirbeln. Dann erhaschte sein Blick die Menschenmenge tief unten, und obgleich er sich sofort abwandte, war es zu spät. Die Straße schien auf ihn zuzurasen, und er hatte das Gefühl, als stürzte er bereits hinunter. Beinahe ließ er los, dachte sogar für einen entsetzlichen Moment, daß er es tatsächlich getan hatte, war ganz sicher, daß er Purzelbäume schlagend durch die Luft taumelte, er der Junge mit den nutzlosen Flügeln war, der von der heißen Sonne der kalten, harten Erde entgegenstürzte, aber nein, er hielt sich noch immer fest, sein Körper knallte noch immer gegen das Fenster und die Stahlverkleidung, seine Arme waren noch immer krampfhaft um die Beine des Mannes geschlungen, und der Mann schüttelte ihn noch immer. Er starrte ihn an und haßte ihn und schüttelte ihn …
    Und dann verharrte der Mann. Er bewegte sich überhaupt nicht mehr. Jack begriff es nicht und schaute hoch. Der Mann hatte sich umgewandt, blickte zum Fahrstuhl, schaute auf etwas hinter ihm. Nein, nicht auf etwas.
    Auf jemanden.
    Der Mann wandte sich wieder dem Fenster zu. Sah auf Jack hinunter, der noch immer außerhalb des Gebäudes baumelte, unüberbrückbare Zentimeter von dem Sims entfernt. In diesem Moment lachte der Mann. Es war ein Lachen, wie Jack es nie zuvor gehört hatte. Ein wildes, grausames und wahnsinniges Lachen, das aus der Kehle eines unmenschlichen Wesens drang, einer Kreatur direkt aus der Hölle.
    Und Jack wußte, was er zu tun hatte. Er hatte keine Ahnung, ob er es schaffen würde, aber er mußte es versuchen, wenn er am Leben bleiben wollte.
    Er mußte es tun, damit er nicht abstürzte und verschwand.
    Damit er nicht starb …
    Dom hörte das irre Lachen und rannte los, rannte, so schnell er konnte, denn ihm war klar, was passieren würde. Aber er kam zu spät. Er konnte es nicht verhindern.
    Der Wahnsinnige am Fenster lachte wieder, und während Jack sich am Bein des Mannes festhielt, verfolgte Dom hilflos, wie der schwitzende Mann aus dem Fenster sprang – ein mächtiger Satz weit aus dem Gebäude hinaus, und Dom, der nach ihm schnappte, griff in die Luft. Er sah Jacks Gesicht in dem winzigen Augenblick, ehe der Mann sprang, sah, was Jack vorhatte, und Dom sagte »Ja!« und ein zweites Mal »Ja!«, und der kleine Junge ließ los …
    Jack spürte, wie die Beine des Mannes sich kraftvoll anspannten, spürte es so deutlich, als wären sie beide ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher