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Iacobus

Iacobus

Titel: Iacobus
Autoren: Matilde Asensi
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Angelegenheiten waren – war ich keineswegs dazu verpflichtet, irgend etwas zu tun, was nicht meinen Neigungen entsprach. Laudes, Prima, Tertia, Sexta, Nona, Vesper und Komplet bestimmten meine täglichen Studien, die Mahlzeiten, Spaziergänge, Arbeit und Schlaf mit mathematischer Präzision. Ergriffen von Unruhe und dem Heimweh nach meiner fernen Insel wandelte ich manchmal unermüdlich durch den Kreuzgang und betrachtete seine einzigartigen Kapitelle. Oder ich stieg auf den Kirchturm hinauf, um dem wachhabenden Novizen Gesellschaft zu leisten. Oder ich streifte ziellos zwischen der Bibliothek und dem Kapitelsaal, dem Refektorium und den Schlafsälen, den Badestuben und der Küche umher, in dem Versuch, mein Gemüt zu beruhigen und die Hast zu mäßigen, die ich verspürte, um endlich auf jenen Menschen zu treffen, den ich in meinem tiefsten Inneren Jonas getauft hatte, nicht nach jenem Jonas, der angstvoll vom Walfisch verschluckt wurde, sondern nach jenem, der aus dessen Bauch wieder frei und erneuert ausgespien wurde.
    Eines schönen Tages vernahm ich während der Messe unter den Gesängen einen kindlichen, röchelnden Husten, der mich zusammenzucken ließ; wenn es nicht so eindeutig gewesen wäre, daß jener Husten nicht aus meiner Brust drang, so hätte ich schwören können, daß ich es war, der sich da räusperte und keine Luft mehr bekam. Aufmerksam blickte ich in Richtung jenen Bereichs des Chorgestühls, von wo aus die puerioblati unter dem wachsamen Blick des mit einer Engelsgeduld gesegneten Novizenmeisters gähnend der Liturgie folgten, aber ich konnte nichts weiter als eine Gruppe unruhiger, schmächtiger Schatten erspähen, denn das Kirchenschiff war in Finsternis getaucht, nur spärlich erleuchtet von einigen Dutzend dicker Wachskerzen.
    Als ich am folgenden Tag frühmorgens ins Spital kam, untersuchte der mit der Krankenpflege betraute Bruder gerade sorgfältig ein Kind, das schon fast das Jünglingsalter erreicht hatte und alles ringsherum mit abweisender und mißtrauischer Miene beobachtete. Unauffällig in einen Winkel gedrückt, führte ich aus der Ferne meine eigene ärztliche Untersuchung des Patienten durch. Gewiß hatte der Junge eine ungesunde Gesichtsfarbe und tiefliegende Augen, seine Wangen waren ein wenig eingefallen und Schweiß stand ihm auf der Stirn, doch er schien an nichts Außergewöhnlichem zu leiden. Er hatte lediglich eine Erkältung; sein schmächtiger Brustkorb hob und senkte sich mühsam und gab ein schwaches Pfeifen von sich, und der Junge litt unter krampfhaftem trockenen Husten. Am besten wäre es, ihn ins Bett zu stecken und ihn einige Tage auf der Grundlage von heißer Brühe und Wein zu ernähren, damit er die schlechten Säfte ausschwitzte …
    »Es wird am besten sein«, urteilte jedoch der Krankenpfleger, während er dem Knaben leicht auf den Rücken klopfte, »ihn zur Ader zu lassen und ihm ein leichtes Abführmittel zu geben. Innerhalb einer Woche wird er wieder wohlaufsein.«
    »Seht Ihr?« rief Jonas und drehte sich zum Novizenmeister um, »seht Ihr, wie er mich zur Ader lassen will? Ihr habt mir versprochen, daß Ihr es nicht zulassen werdet!«
    »So ist es, Bruder«, gab jener zu, »ich habe es ihm versprochen.«
    »Nun, dann bekommt er eben das stärkste Abführmittel, das ich habe.«
    »Nein!«
    Es ist erstaunlich, wie die Natur mit dem eigenen Fleisch und Blut von Generation zu Generation ihre Scherze treibt. Obwohl Jonas nicht einen einzigen meiner Gesichtszüge geerbt hatte, besaß er eine Stimme, die der meinen sehr glich. Zwar war sie noch kindlich, doch überschlug sie sich aufgrund des Stimmbruchs schon ab und zu und klang dann so tief, daß niemand mehr den Unterschied zwischen ihm und mir hätte feststellen können.
    »Wenn Ihr gestattet, Bruder Borell«, wandte ich mich jetzt an den Bruder des Spitals, während ich mich dem Schauplatz des Dramas näherte, »so könnten wir vielleicht das Abführmittel durch eine exudatio ersetzen.«
    Ich hob nun Jonas' rechtes Augenlid, um den Grund seiner Iris zu untersuchen. Sein allgemeiner Gesundheitszustand war ausgezeichnet, vielleicht war er gerade etwas schwach, aber eine richtige Schwitzkur und viel Schlaf würden ihm hervorragend bekommen. Ich konnte nicht umhin zu bemerken, daß Jonas' Augen wie die seiner Mutter von einem hellen, mit Grau durchsprenkelten Blau waren, Augen, welche die beiden von einem entfernten französischen Vorfahren geerbt hatten … Denn auch wenn Jonas dies nicht wußte, so
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