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Hymne an Die Nacht

Hymne an Die Nacht

Titel: Hymne an Die Nacht
Autoren: Sylvia Madsack
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kann, aber in Wahrheit ist er vermutlich noch immer der einsame, bedürftige Junge, der von seinen lieblosen und ehrgeizigen Eltern im Stich gelassen wurde.«
    Daphne klang nachdenklich, als sie erwiderte: »Du meinst, Joanna hat mal wieder jemanden gefunden, den sie sozusagen retten kann? Und er ist seinerseits fasziniert von ihrer inneren Stärke, weil er einer solchen Frau noch nie begegnet ist?«
    »Ich rede von Liebe, nicht von einem Helfersyndrom«, sagte er ungewollt schroff.
    »Oje, Stanislaw«, er sah sie durchs Telefon lächeln, »dass ausgerechnet du mir das erklären musst! Aber du hast recht, solche psychologischen Begriffe taugen nichts, wo es um etwas ganz anderes geht. Wenn sie ihn wirklich liebt, ist seine Reaktion eine Katastrophe für sie.«
    Igor wurde immer unruhiger, er wollte nach draußen. Stanislaw gab ihm ein Zeichen, dass es gleich losgehen würde, und sagte: »Ich rufe dich bald wieder an.«
    »Wehe nicht, sonst komme ich doch«, drohte sie scherzhaft.
    »Pass auf dich auf, mein Hexlein.«
    »Und du auf dich. Und auf Joanna.«

Neunundzwanzig
    Kyrill war beeindruckt. Das »Schlösschen«, von dem der Barkeeper ihm erzählt hatte, war tatsächlich ein Wunderwerk phantasievoller Architektur, und es passte so viel besser in diese Landschaft als all die Neubauten, die hier seit dem Fall des sozialistischen Systems aus dem Boden gestampft worden waren. Wozu im Übrigen auch das Hotel gehörte, in dem er logierte.
    Er stieg aus dem Wagen und machte ein paar Fotos von der Fassade, als ein Mann mit einer Art Butleruniform aus dem Haus kam und ihn misstrauisch musterte.
    »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte der Mann frostig.
    Sofort startete Kyrill seine gewohnte Charme-Offensive. »Bitte entschuldigen Sie«, er lächelte gewinnend, »aber ich bin Gast im ›Montana‹, und dort hat man mir dermaßen von der Architektur dieses Gebäudes vorgeschwärmt, dass ich auf dem Weg nach Brasov nicht widerstehen konnte, mir das mal aus der Nähe anzusehen.« Er lächelte erneut, diesmal besonders treuherzig. »Ich hoffe, der Hausherr hat nichts dagegen. Aber ich vermute, er ist um diese Jahreszeit ohnehin noch nicht hier. Die Saison hat ja gerade erst begonnen.«
    Die Gesichtszüge des Angestellten entspannten sich etwas. »Machen Sie hier Ferien?«, erkundigte er sich. »Die Skilifte sind seit gestern in Betrieb, und wir haben gute Schneeverhältnisse.«
    »Nicht direkt Ferien«, wich Kyrill aus, »ich habe unten in Brasov geschäftlich zu tun. Aber man kann ja das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, nicht wahr?«
    Der Mann nickte zustimmend.
    Kyrill murmelte einen Abschiedsgruß, stieg wieder in seinen Porsche »Cayenne« und fuhr in gemächlichem Tempo davon.
    »Was war das denn?« Vadim kam langsam die Steinstufen vor dem Eingang herunter. Er trug einen alten Skipullover über verwaschenen Jeans, sein bleiches Gesicht war unrasiert, und seinen Augen sah man an, dass er fast nicht geschlafen hatte.
    Cornel zuckte mit den Schultern. »Ein neugieriger Gast aus dem ›Montana‹, ein Russe offenbar. Er sei geschäftlich hier, unten in Brasov, hat er gesagt. Jedenfalls ist er kein aufdringlicher Paparazzo.«
    »Trotzdem kam mir der Typ irgendwie seltsam vor. Ich hatte ihn von drinnen beobachtet, bevor du ihn angesprochen hast. Er wirkte auf mich wie jemand, der etwas ganz Bestimmtes im Sinn hat und sich nicht nur für außergewöhnliche Architektur interessiert. Im ›Montana‹ wohnt er, sagst du?«
    Cornel nickte gleichmütig. Er konnte den Argwohn seines Arbeitgebers nicht teilen. Der Mann war sehr höflich gewesen, dazu von gepflegter Erscheinung, und sein Auto ließ auf gediegenen Wohlstand schließen.
    »Ich werde heute Abend mal in seinem Hotel auf einen Drink vorbeischauen«, sagte Vadim, »ich brauche ohnehin Ablenkung.«
    »Soll ich dich hinfahren?«
    »Danke, nicht nötig, ich gehe zu Fuß.«
    »Aber das ›Montana‹ liegt ziemlich weit entfernt«, sagte Cornel verblüfft, »da bist du bei der Kälte fast eine Stunde unterwegs.«
    »Macht nichts, Bewegung und frische Luft werden mir guttun.«
    »Wenn du meinst«, erwiderte Cornel und wirkte erstmals etwas besorgt. »Ich dachte nur, weil du so etwas sonst nie machst, solche Spaziergänge hier oben. Sag mir aber Bescheid, wenn ich dich später abholen soll.«
    »Ja, mach ich.« Vadims Stimme klang matt, als er sich umdrehte und ins Haus zurückehrte.
    *
    Im Hotel war an diesem Abend etwas mehr Betrieb, es wurde eine Hochzeit gefeiert.
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