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Hyänen

Hyänen

Titel: Hyänen
Autoren: Tom Epperson
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die irgendwie abgebissen aussahen. Das rechte Auge vernarbt und blind. Sein braun-weiß geflecktes Fell schien zu straff über das kräftige Skelett gespannt zu sein. Er trug ein Würgehalsband mit nach innen gerichteten Dornen. Der Kerl würdigte Gray im Vorbeigehen keines Blickes, der Hund schon. Gray blickte ihm über die Schulter nach und sah, wie das Tier
ihm
ebenfalls nachschaute.
    Ein großes gelbes Seepferdchen aus Holz hing über dem Eingang eines blauen Hauses mit Stuckfassade. Er blieb stehen und schaute hinein. Drinnen tobte das Leben. Die Bar war brechend voll. Eine blonde Kellnerin servierte gerade einen großen Teller King Crabs. Als hinter ihm noch ein Jet röhrend emporstieg, ging Gray hinein.
    Die Einrichtung bestand aus Netzen, Dreizacken, Muscheln und präparierten Fischen. Er setzte sich an den Tresen und bestellte ein Bier vom Fass. Auf dem Barhocker neben ihm saß ein alter Mann. Er hatte offenbar einen steifen Nacken und drehte den ganzen Oberkörper herum, um Gray anzusprechen.
    «Ist doch verrückt, oder?»
    «Was ist verrückt?»
    «Sam Snead hat es schon wieder nicht geschafft, die Open zu gewinnen.»
    Gray hatte keine Ahnung, wer dieser Sam Snead war, nickte aber trotzdem. Seinen Rucksack hatte er neben dem Barhocker auf den Boden gestellt. Der alte Mann sah auf ihn herunter.
    «Unterwegs?»
    «Sieht ganz so aus.»
    «Aufbruch oder Heimkehr?»
    «Gute Frage.»
    Der alte Mann lachte, als hätte Gray gerade eins der ewigen Rätsel der Menschheit gelöst. Er streckte die Hand aus, und Gray schüttelte sie.
    «Ich heiße Norman.»
    «Gray.»
    «Was für ein trauriger Abend, Gray. So ein trauriger Abend.»
    «Wieso?»
    «Mr. Jones ist gestorben.»
    «Das tut mir leid.» Er schlürfte etwas Schaum von seinem Bier. «Wer war Mr. Jones?»
    «Mein Kater.»
    «Und wie ist er gestorben?»
    «Natürliche Todesursache. Nierenversagen. Aber im Grunde war es das Alter. In Katzenjahren war er noch älter als ich. Letzte Woche habe ich siebenundzwanzig Gummibänder gefunden.»
    «Wo haben Sie die gefunden?»
    «Hier und da. Die meisten lagen auf dem Boden. Erstaunlich, wie viele Gummibänder man findet, wenn man mal darauf achtet. Aber vielleicht wunderst du dich, weshalb ich mir die Mühe mache, sie aufzuheben?»
    «Ja, warum tun Sie das?»
    «Du brauchst mich nicht zu siezen. Weißt du, was Entropie ist?»
    «Hat irgendwas mit Physik zu tun, oder?»
    «Genau. Entropie bedeutet, dass alle Materie und alle Energie des Universums von einem geordneten in einen ungeordneten Zustand wechseln. Als ob ein Kind an einem heißen Sommertag sein Eis einfach so auf den Bürgersteig fallen lässt. Alles, was davon übrig bleibt, ist eine klebrige kleine Pfütze. Man kann nichts dagegen tun.
Aber!
Man kann es verlangsamen.»
    «Und hier kommen dann die Gummibänder ins Spiel?»
    «Meine Güte, Gray! Du bist aber fix! Ich sammle sie so lange, bis ich ein paar tausend habe. Dann vermache ich sie einer Schule oder so. Die Gummibänder können dann wieder als Gummibänder benutzt werden, anstatt einfach nur als Müll auf der Straße zu liegen. Die Entropie wird für kurze Zeit ein klein wenig gebremst.»
    «Ich sag dir was, Norman. Von jetzt an werde ich die Gummibänder ebenfalls im Auge behalten.»
    «Ich sag
dir
was. Ich geb dir einen aus, wenn du mit mir auf Mr. Jones anstößt.»
    «Abgemacht.»
     
    Der Honda Accord raste die Interstate  40 entlang in Richtung Westen. Durch die endlose, leere texanische Nacht. Vor ihnen lag Amarillo, aber Amarillo war nicht ihr Ziel. Sie fuhren nach Westen, um den Abstand nach Osten zu vergrößern, dieser fatalen Himmelsrichtung, aus der plötzlich der dicke Mann im roten Pullover aufgetaucht war.
    Für einen Jungen weinte Luke viel. Auch in dieser Nacht hatte er geweint, aber jetzt war er ruhig. Sie blickte zu ihm hinüber. Er hatte sich weggedreht. Sie konnte nicht sehen, ob seine Augen geöffnet waren. Wahrscheinlich war er in den erschöpften Schlaf der Verzweifelten und Verlorenen gesunken.
    Der Radiosender, den sie gehört hatte, wurde immer schwächer, und sie versuchte, einen anderen hereinzubekommen. Anscheinend gab es aber nur nervige Country-Musik und verrückte Prediger, die die sündhafte Welt verfluchten. Sie stellte das Radio aus.
    Von den monotonen Fahrgeräuschen abgesehen, war es vollkommen still. Sie fühlte sich so allein, als raste sie mit Luke in einer versiegelten Kapsel durch die eisige Dunkelheit am Ende der Milchstraße.
    Sie schaute auf die
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