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Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle
Autoren: Jürgen Ebertowski
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Befreiung empfunden. Sie
währte nicht lange, die Freiheit. Die Deutschen waren den Russen als Besetzer
in jeglicher Hinsicht ebenbürtig gewesen. Gormullowski hatte vor dem Krieg in
Braunschweig Maschinenbau studiert und dort Deutsch gelernt, ein Umstand, der
ihm vermutlich das Leben gerettet hatte, denn er war wegen seiner technischen
Ausbildung und seiner Sprachkenntnisse als Zwangsarbeiter nach Berlin
verschleppt worden, um bei der Weser Flugzeugbau GmbH in Tempelhof eingesetzt
zu werden. Statt zum »Luftkreuz Europas« hatte man den Zentralflughafen sofort
nach Kriegsbeginn in den militärischen Status eines Fliegerhorstes erhoben, und
Tempelhof war ein kriegswichtiger Standort der deutschen Flugzeugindustrie
geworden.
    Stanislaw Gormullowski hatte nicht als
einer der Arbeitssklaven geschuftet, die während der letzten beiden Kriegsjahre
in den oberirdischen Hallen oder in dem Bahntunnel, der den gesamten
Flughafen-Gebäudekomplex unterquerte, Jagdflugzeuge des Typs Focke-Wulf 190 und
Messerschmitt 262 für die WFG unter menschenunwürdigen Bedingungen fertigen
mussten. Der Pole hatte in einer Werkstatt in Kreuzberg die Heidelberger Tiegel
gewartet, auf denen Betriebsanleitungen und Ähnliches für die Fw 190 und Me 262
gedruckt worden waren. Ein ehemaliger deutscher Kommilitone aus Braunschweig,
zufällig bei den Weser-Werken als Konstrukteur für die Höhenmesserherstellung
zuständig, hatte ihm diese relativ leichte Arbeit in der Druckerei beschaffen
können.
    Noch kurz vor dem Einmarsch der Roten
Armee war Gormullowski nicht in die Barackensiedlung der Zwangsarbeiter am
Columbiadamm zurückgekehrt, sondern in Berlin untergetaucht. Ein deutscher Sozialdemokrat,
der das zweifelhafte Vergnügen gehabt hatte, gleich nach der Machtergreifung
drei Wochen »Schutzhaft« zu genießen, und der auch in der Druckerei beschäftigt
war, hatte ihn bei sich zu Hause versteckt. Dort, in einer verfallenen Remise
in der Kreuzberger Zossener Straße, hatte Gormullowski sich überwiegend
aufgehalten, bis die Westalliierten ihre Sektoren besetzten. Einmal die
Bekanntschaft mit einem russischen Gewehrkolben gemacht zu haben genügte dem
Polen vollauf. Irgendwann Mitte Mai hatte er dann Benno Hofmann auf dem
Schwarzmarkt am Potsdamer Platz kennen gelernt. Seitdem erledigte er immer noch
gelegentlich ein paar Sachen für ihn. Gelegentlich – denn vom vergangenen
Herbst an war er als Arbeiter bei den Amerikanern mit Anspruch auf eine
Lebensmittelkarte der Stufe I weitaus besser dran als ein deutscher »Otto
Normalverbraucher« mit seiner kärglichen Wochenration und kaum noch von
Schwarzmarktgeschäften für den schieren Lebensunterhalt abhängig. Dass er
dennoch hin und wieder mit Benno zusammenarbeitete, hatte ausschließlich mit
seinem Traum zu tun.
    Zuerst hatten die Amis niemanden an ihre
Flugzeuge rangelassen, lange dauerte indes ihre Zurückhaltung nicht. Unter den
Leuten, die sie auf dem Flughafen beschäftigten, waren viele, die sich aus
alter Verbundenheit zur Luftfahrt dort um eine Stelle beworben hatten wie etwa
frühere Piloten oder technisches Personal der Lufthansa. Auch der ehemalige
Zwangsarbeiter, zudem Ingenieur und »Displaced Person«, war ohne
Schwierigkeiten eingestellt worden und damit seinem Traum ein Stück näher
gekommen, denn Gormullowskis Traum hieß Kalifornien. Das Problem war
allerdings, dass er keine Adresse von seinem Neffen dort hatte, und obwohl er
schon einen Visumantrag für die USA gestellt hatte, verlief die Angelegenheit
schleppend. Es gab Abertausende von polnischen DPs mit einem ähnlichen
Schicksal wie dem Stanislaw Gormullowskis, die dem kriegsverbrannten Europa den
Rücken kehren wollten und auch wenig Neigung verspürten, sich nochmals unter
der russischen Knute zu krümmen. Wenn die Zeit gekommen war, in die USA
überzusiedeln, würde er nicht mit gänzlich leeren Taschen einreisen. Und damit
die sich weiterhin füllten, hatte er sich jetzt mit dem Sergeant im Aurora getroffen.
Falls er es zusätzlich schaffte, die Druckfarbendosen aus seiner vormaligen
Arbeitsstätte, die er in einem Hohlraum unter der Remise eingelagert hatte, zu
seinen Bedingungen an den Mann zu bringen, würde er sogar über ein
beträchtliches Startkapital verfügen.
    Trotz kaputtem Knie, trotz zerschlagener
Unterlippe war der Pole sich des ungeheuer glücklichen Ausgangs seiner Odyssee
bewusst. Er lebte, aber seine beiden Wohltäter, der ehemalige Kommilitone und
der Arbeiter aus der Druckerei, waren tot. Den
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