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Hundestaffel

Hundestaffel

Titel: Hundestaffel
Autoren: Stefan Abermann
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Gewissens lag im Kampf mit den Bruchstücken einer Welt, die ich nicht mehr wahrhaben wollte, im Kampf mit alten Freundschaften, die sich vor meinen Augen zersetzen, im Kampf mit der Sehnsucht nach dieser Umarmung, in der sich die Widersprüche der Welt vielleicht hätten auflösen können, im Kampf mit der Versuchung, Hannes in diesen Wahnsinn zu folgen. Ich schloss die Augen, Orientierung bot nur noch Annas Körper, angelehnt an meinen Körper, der mich absteckte und mir zeigte, wo ich begann und endete. Was taten meine Hände? Wunderten sie sich darüber, wie weich sie sich anfühlte? Fuhren sie diesen fremden Rücken hinauf und hinab, blieben sie an einer Stelle liegen, gruben sie sich in die Wärme eines Schulterblattes, hielten sie sich an den Resten der Welt fest? Ich vergaß zu vergessen, wo ich war, spürte Annas Knie leicht einknicken, ihre Beine kippten zwischen meine Beine, ihr Becken lehnte an mein Becken – die richtige Berührung, nur vollkommen falsch, im vollkommen falschen Moment. Ich wollte den Raum anschreien, diese Geisterbahn aus unlogischen Bildern zurückbrüllen, woher sie gekommen war, jeden auf seinen Platz verweisen, Pandoras Büchse wieder auffüllen und versiegeln. Ich sah meine Hände über Anna wandern, während sich mein Mund zu einem Schrei öffnete. Ein lautes Kreischen zerriss die Luft. Ich öffnete verwirrt die Augen.
    Denn dieser Schrei gehörte nicht mir.
    Zuerst sah ich nur Schemen. Zwei weiße Flecken wehten über meine Bildfläche, wurden zunehmend schärfer und gaben sich schließlich zu erkennen. Ich erkannte Maria, die verstört schreiend über die Sofalehne flüchtete, Hannes thronte über Bélisa wie ein Krieger auf einem eroberten Hügel. Aus dem Tal dahinter preschte nun Leo hervor, hechtete aus dem Sofa, nackt mit einer bedrohlichen Erektion im Anschlag, hässlich entblößt. Marias Augen waren leer, doch in ihren Zügen zeigte sich der Wille zur Flucht, ihre Beine bewegten sich unwillig, doch sie zwang sich weiter, orientierungslos und doch getrieben von einem eisernen Willen. Leo stolperte über seine eigene Hose, strampelte sie ab. Meine Knie begannen zu zittern. Leo verfolgte Maria, sie erreichte die Stiege zum oberen Stockwerk, knickte kurz ein, rappelte sich am Geländer wieder auf und stolperte verzweifelt die Stufen hinauf. Ich wollte eingreifen, doch Annas bleierne Umarmung hielt mich zurück, sie kicherte, gurrte, die Welt um sie herum war ausgeblendet.
    Maria erreichte den Treppenabsatz, stürzte erneut und blieb liegen. Leo jagte ihr auf allen vieren nach, wie ein Rottweiler einem Hasen. Er segelte die Stufen nach oben. Maria drehte sich nach ihm um. Leo schnaubte, keuchte, prustete, wollte dem Mauerblümchen seine Blüten ausreißen, machte einen Satz, hob ab und flog auf sie zu.
    Mit voller Kraft trat sie plötzlich nach seinem Kopf.
    Es knackte.
    Leos Kopf schnellte hoch, als hätte man ihn an einer Leine zurückgerissen. Sein Körper schraubte sich in die Luft, schlug hart auf und schlitterte schließlich die Stufen hinunter. Bewegungslos blieb er an ihrem Ende liegen. Auf dem Sofa grunzte Hannes.
    Paralysiert stand ich mit Anna am Fuß der Treppe. Es war still geworden im Raum. Nur Maria hörte man von oben leise brabbeln. Ich legte Anna auf dem Boden ab, sie protestierte zwar, blieb aber lächelnd sitzen. Bélisa stierte ziellos durch den Raum. Unberührt von den Ereignissen lag sie auf dem Sofa. Hannes näherte sich der Treppe. Sein Oberkörper war nackt.
    Mein Blick sprang aufgeregt im Kreis: vom leblosen Körper Leos zu Anna, in Hannes’ fassungsloses Gesicht und wieder zurück. Ich fühlte mich zugedröhnt und nüchtern zugleich.
    „Was ist das!“, schreit Hannes. „Was ist das?“, hat er geschrien, „Das geht nicht!“, schrie er. Anna lachte, sah ins Leere. Ich schaute auf Leo hinunter, als spähte ich ängstlich über den Rand einer Klippe.
    Ich war überrascht, welchen Eindruck sein Anblick auf mich machte. Ich hatte mitangesehen, wie ein Hals brach. Und was empfand ich? Ich war geschockt, das schon. Doch ich verspürte auch eine eigenartige Erleichterung. Ich fühlte in mir einen See austrocknen und wusste gleichzeitig, dass ich fast darin ertrunken wäre. Etwas hatte passieren müssen. Nun war es passiert. Ich war froh, dass der Lauf der Zeit sich doch noch ändern konnte, wenn es nötig war. Und nun musste sich etwas ändern. Aus eigenem Antrieb hätte ich mich nicht aus diesem Loch ziehen können. Die Talfahrt wäre ewig
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