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Hundertundeine Nacht

Hundertundeine Nacht

Titel: Hundertundeine Nacht
Autoren: Christoph Spielberg
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das tatsächlich komplett ausgefahren und eingerastet war. Rote Lämpchen für warmgelaufene Triebwerke, die vollkommen normal arbeiteten. Rote Lämpchen haben ein ausgeprägtes Eigenleben. Das sicherste Mittel war noch immer ein kräftiger Schlag auf die Armaturen gewesen, oder sie einfach zu ignorieren. Außerdem hatte erst vor kurzem eine Schwester seine Infusionspumpe überprüft. Um ihn nicht zu stören, hatte sie das Licht nicht eingeschaltet und eine von diesen Minitaschenlampen benutzt.

    Er schaute erneut zur Uhr auf dem Nachttisch. Hatte die plötzlich auch einen Defekt? Jedenfalls konnte er die Minutenanzeige kaum erkennen. Auch schienen jetzt zwei Kontrollämpchen zu leuchten. Es wurde wirklich langsam Zeit, daß sich jemand um die Sache kümmerte. Wie hatte er annehmen können, daß es auf dieser Station einen Zentralmonitor gäbe, auf dem auch eine Kontrollampe blinkte? Er lag schließlich in der Abteilung für chronisch Kranke, da war sicher schon dieser Infusionsautomat ein Luxus! Und wahrscheinlich aus der Steinzeit der Medizin! Wo war nur der verdammte Rufknopf für die Schwestern? Sonst hing der immer direkt neben seiner rechten Hand, aber da war nichts. Irgend etwas lief ernstlich falsch.

    Er versuchte zu rufen, brachte jedoch lediglich ein unartikuliertes Stöhnen heraus, unmöglich, daß ihn jemand hörte. Warum nur war er Privatpatient mit eigenem Zimmer, ohne einen Mitpatienten, der jetzt helfen könnte! Wahrscheinlich wäre die Intensivstation doch besser gewesen. Er versuchte aufzustehen. Keine Chance, verdammte Schwäche!

    Inzwischen blinkt ein ganzer Weihnachtsbaum von Lämpchen, langsam verliert er die Kontrolle über die Maschine. Links und rechts tauchen englische Spitfire auf, spucken ihm ihre MG-Salven entgegen, unter ihm ist ganz London von Brandherden erleuchtet. Was ist eigentlich mit dem Kopiloten? Schläft der? Unvorstellbar, der muß getroffen sein. Hat er überhaupt einen Kopiloten? Blödsinn, er ist doch Privatpatient im Einzelzimmer! Die Maschine geht in ein unkontrolliertes Trudeln über, verliert rasend an Höhe. Seine Hände am Steuerknüppel gehorchen ihm nicht, er muß sofort aussteigen. Aber das Kabinendach klemmt, und er ist zu schwach, es zu öffnen. Immer mehr englische Jäger beteiligen sich an der Jagd auf ihn, immer dichter rast seine Messerschmitt auf das brennende London zu. In wenigen Sekunden wird sein Körper zerquetscht, in tausend Stücke zerrissen, in brennendem Flugbenzin verbrannt sein. Hatte er eigentlich die Bomben ausgeklinkt?

    Plötzlich erlöschen die eben noch nervös blinkenden Warnlämpchen. Das Flugzeug liegt wieder stabil auf Kurs, die Spitfires sind verschwunden. Friedliche Stille im Cockpit, Sonnenaufgang über dem Kanal, am Horizont grüßt schon die Küste der Normandie. Gleich dahinter kann er die Rehwiese erkennen, sein Lieblingsblick vom Wintergarten aus. Alles wird gut.

    Herbert Winters Herz stellte seine Tätigkeit um 00:08 Uhr ein. Genau acht Minuten, nachdem die Infusionspumpe wegen einer Störung in den Sicherheitsmodus gewechselt war und dann abgeschaltet hatte.

1

    Ich steckte mir eine neue Zigarette an, die dritte an diesem Abend. Meine Freundin Celine findet, ich spiele Russisch Roulette, wenn ich jeweils zu Silvester die Erinnerung an den Sieg über meine Willensschwäche und Suchtstruktur mit ein paar Zigaretten feiere. Doch bisher wenigstens haben die Silvesterzigaretten nicht zu einer erneuten Raucherkarriere geführt, vielleicht bin ich am Ende nicht ganz so willensschwach, wie Celine vermutet.

    »Möchtest du auch noch eine?«

    Im Schein meines Feuerzeuges konsultierte Schwester Renate, jung und hübsch wie immer, ihre Armbanduhr und schüttelte den Kopf. Es war kurz vor halb zwölf. Ein kalter Tropfen schlich sich aus ihrer roten Weihnachtsmann-Nase und kullerte langsam in Richtung ihres Kußmundes.

    »Nein, danke. Ich glaube, ich gehe lieber rüber auf Station und helfe Käthe. Wer weiß, was deine Patienten heute nacht anstellen. Zuletzt machen sie wieder Polonäse über alle Flure wie zu Weihnachten!«

    »Meine Patienten können im Schnitt auf hundertzwanzig Silvesternächte zurückblicken und haben zur Feier des Tages einen kräftigen Punsch bekommen. Ich habe höchstpersönlich noch eine Flasche Asbach Uralt aus meinen privaten Beständen hineingeschüttet. Die rühren sich bis morgen mittag nicht, nicht die kleinste Muskelfaser.«

    Renate tippelte von einem Bein aufs andere – wegen der Kälte, schien mir
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