Hundertundeine Nacht
als Reinigungskraft, nicht als Patient. Er hatte damals keinen Hausarzt angegeben, also brauchte ich keinen Arztbrief zu schreiben und mir auch keine Diagnose aus den Fingern zu saugen. Und nun lag er quittegelb und mausetot vor mir.
»Was soll ich schreiben, wann er gestorben ist?«
Schreiber war offensichtlich beim kritischen Teil seines Einsatzprotokolls angelangt. Wir mußten uns entscheiden: Toteinlieferung oder Tod in der Klinik?
»Ich brauche jetzt erst einmal einen Kaffee. Laß uns den Leichenschauschein fertig machen, dann ergibt sich dein Protokoll von selbst.«
Wir gingen hinaus zu den Schwestern und den Rettungssanitätern.
»Es geht langsam los, Dr. Hoffmann. Du mußt dir einen Bauch im Untersuchungszimmer eins und eine Tablettenvergiftung in zwei anschauen.«
»Was für Tabletten?«
»Ist 'ne Achtzehnjährige, nur 'ne zwanziger Packung Valium S. Bißchen müde, voll ansprechbar, guter Druck.«
Dienst mit Schwester Sophie und ihrer Mannschaft ist ein Glücksfall. Dieser Mannschaft kann man ziemlich blind vertrauen, und hinter »bißchen müde, voll ansprechbar, guter Druck« würde sich nicht ein komatöses, halbtotes Mädchen verbergen.
»Macht schon mal Programm 3, ich muß noch eben mit Schreiber den Toten fertig machen.«
Programm 3 ist eine kräftige Magenspülung, beim wachen Patienten voll an die Schwestern delegierbar. Sie wird ebenso aus therapeutischer wie aus erzieherischer Indikation eingesetzt in der Hoffnung, daß uns der Patient nach dieser Erfahrung nicht so bald wieder belästigt.
Ich goß Kaffee ein, und wir machten uns an die Formalien. An Leichenschauscheinen mangelte es Schreiber in seinem Notarztwagenkoffer nicht, sie nahmen fast so viel Platz ein wie seine Notfallmedikamente.
»a) Unmittelbare Todesursache ... b) als Folge von ... c) als Folge von (Grundleiden) ...« Und wehe dem Tod, der sich nicht an diese vorgegebene Reihenfolge des deutschen Totenscheins gehalten hätte! Wo sich der frustrierte Arzt, der den Totenschein ausfüllen muß, rächen kann, sind allerdings die Fragen »natürlicher Tod«, »nicht-natürlicher Tod«, »Todesursache nicht aufgeklärt«. Die Antwort »Todesursache nicht aufgeklärt« setzt eine nicht mehr aufzuhaltende Maschinerie in Gang. Die Leiche wird beschlagnahmt, die Kripo muß sich darum kümmern, sie muß eventuell vom Gerichtsmediziner seziert werden.
»Was meinst du, sollen wir ›natürlicher Tod‹ ankreuzen?« fragte Schreiber.
»Wie wäre es mit ›Tod bei medizinischer Behandlung?‹«
Sofort bereute ich meinen kleinen Scherz. Schreiber war müde und sah ziemlich schlecht aus. Posttraumatischer Streß. Er würde sich daran gewöhnen müssen.
»Ich war sicher, ich hatte alles unter Kontrolle. Er hatte kaum noch einen Druck, als wir in diese Pension kamen, und einen vernünftigen Rhythmus hatte er auch nicht. Aber es lief wirklich gut. Eine schnelle, saubere Subklavia, eine saubere Jugularis für den Schrittmacher, keine Fehlpunktion, keine Ösophagus-Intubation. Wir hatten ihn ziemlich stabil, als wir abfuhren.«
»Ich glaube, er hatte keine Chance, Schreiber. Niemand hätte ihn lebend bis hierher bringen können. Du nicht, ich nicht, der Papst nicht. Du hast deine Sache gut gemacht, mach dir keine Vorwürfe.«
Wir nahmen unseren Kaffee mit zurück in den Untersuchungsraum, in dem Mischa auf seinen Transport in die Pathologie wartete. Früher bekamen die Leichen so einen Kofferanhänger an die Zehen gebunden, und irgendwie machten diese Anhänger den Eben-noch-Menschen endgültig zu einem Ding. Inzwischen gibt es spezielle Armbänder, und Mischa war schon mit seinem Armband versorgt: »Tschenkow, Mischa, 20. April 1971.« Diese Schwesternschicht war wirklich fleißig.
»Weißt du, Schreiber, der war mal Patient bei mir.«
Mischa schien uns aus seinen gelben Augen anzuschauen – etwas apathisch vielleicht, aber doch, als höre er gespannt zu, warum er sterben mußte.
»Er war mal dein Patient? Weshalb?«
»Wir haben damals nichts Ernsthaftes gefunden. Deshalb würde es mich schon sehr interessieren, woran er jetzt sterben mußte. Ich denke, wir machen ›Todesursache ungeklärt‹. Dann bekommen wir es schön ausführlich, und andere haben auch was zu tun.«
Durch die dünne Wand des Untersuchungszimmers drang das typische Husten und Würgen zu uns – die Achtzehnjährige würde sich wenigstens für ein paar Wochen an ihre Magenspülung erinnern. Und ich mußte mich langsam um die Lebenden
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