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Hüter der Macht

Hüter der Macht

Titel: Hüter der Macht
Autoren: Rainer M. Schroeder
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freundlich. Sie hatte Vertrauen gefasst zu dem alten Mann mit den grauen Haaren und war froh darüber, dass er sie zu sich nach vorn auf den Kutschbock geholt hatte, was alles andere als üblich war. Er hatte behauptet, dass sie ihn an seine Enkeltochter erinnerte, aber Tessa mutmaßte, dass er Mitleid mit ihr verspürt hatte.
    Auf jeden Fall war er der Einzige gewesen, der sie auf der Reise nicht wie ein Stück Fracht behandelt hatte, das genauso unbeschadet bei seinem Eigentümer eintreffen musste wie die edlen Teppiche oder die Truhen mit erlesenen Glaswaren, die auf den Fuhrwerken und auf dem Rücken der Maultiere festgeschnallt waren. Und vor dem Gesetz war sie ja als Sklavin auch nichts anderes als ein Besitzstück, so wie ein Ballen Tuch oder eine Tonne Mehl, höchstens einige Florin wertvoller.
    Nein, Pippo Truffano war nicht der Einzige gewesen, berichtigte sie sich rasch in Gedanken. Da war ja noch der fremde junge Mann mit dem dunkelbraunen Lockenschopf, der ihren Peinigern mit seiner Armbrust so mutig Einhalt geboten hatte und ihrer Tortur im Teich ein Ende gesetzt hatte.
    Der Fuhrmann neben ihr strahlte noch immer beim Anblick seiner Heimat. Er drehte sich zu Tessa. »Ein Papst hat einmal über Florenz gesagt: Es gibt vier Elemente, die die ganze Welt beherrschen, Erde, Wasser, Luft und Feuer. Ich aber füge ein fünftes Element hinzu, die Florentiner, die auch die ganze Welt zu regieren scheinen! «
    »Das gereicht Eurer Stadt gewiss zur Ehre«, sagte Tessa.
    »Dass wir Florentiner zum fünften Element in der Welt geworden sind, das verdanken wir nicht nur unseren mächtigen Bankhäusern, sondern zu einem Gutteil dem Arno.« Der Fuhrmann deutete kurz in Richtung des Flusses.
    »Wie das?« Tessas Interesse war echt, als sie Pippo neugierig anblickte. Sie wollte so viel wie möglich über ihre neue Heimat erfahren.
    »Der Fluss hat zwar seine bösen Launen, die immer mal wieder Zerstörung und Tod in die Stadt bringen, wenn es zu großen Überschwemmungen kommt, aber er sorgt auch dafür, dass Florenz sich niemals um Wasser sorgen muss. Unsere Stadt ist zum Zentrum der Tuchherstellung aufgestiegen. Die feinsten und edelsten Stoffe, die in vielen Ländern begehrt sind und für die viel Geld bezahlt wird, kommen seit Generationen aus Florenz. Es gibt mehr als zweihundert Tuchmanufakturen. Und das alles verdanken wir dem Arno. Denn das Waschen, Walken und Färben des Tuches erfordert viel Wasser.«
    »Von diesen Dingen verstehe ich nichts«, sagte Tessa bescheiden. »Aber ich sehe, was Ihr meint.«
    »Florenz war schon immer eine reiche Stadt, musst du wissen«, fuhr Pippo Truffano fort. »Früher waren es die adeligen Familien, die die Geschicke der Stadt bestimmt haben.« Wieder zeigte er hinunter auf das Gewirr von Häusern. »Siehst du die einzelnen Türme? Man nennt sie Geschlechtertürme. Früher ragten sie noch viel höher auf. Je prachtvoller ein Turm war, desto mächtiger war die Adelsfamilie, der der Turm gehörte. Aber die Macht des Adels ist längst gebrochen. Von Adel zu sein zählt in Florenz nicht mehr.«
    »Was zählt dann?«, fragte Tessa verwundert.
    »Der Goldflorin«, antwortete der Fuhrmann. »Jetzt regieren die reichen Kaufleute und Bankiers. Sie bestimmen die Geschicke der Stadt.« Er zuckte mit den Schultern. »Mir ist es einerlei, welche Kaufmannsfamilie oder welches Bankhaus die Politik der Stadt bestimmt. Sollen sie sich ruhig um die Macht streiten, die Reichen. Mir ist allein wichtig, dass mein Fuhrgeschäft floriert.«
    In diesem Augenblick setzte sich die kleine Karawane wieder in Bewegung und nun musste Pippo wieder auf seine Tiere achten.
    Je näher sie der Stadt kamen, desto schwerer wurde Tessas Herz. Irgendwo in diesem riesigen Häusermeer würde sie ab jetzt leben. Wie sollte sie sich nur zurechtfinden? Sie sehnte sich zurück nach Venedig, nach den Straßen und Gassen, die ihr vertraut waren, und nach den Menschen, in denen sie nach dem Tod ihrer Mutter, einer Sklavin wie sie, beinahe so etwas wie eine Familie gefunden hatte. Die Arbeit in der Küche war zwar schwer gewesen, aber sie hatte sich sicher gefühlt und aufgehoben.
    »Siehst du die große Baustelle mitten in der Stadt?«, unterbrach der Fuhrmann ihre trüben Gedanken. »Das ist unser Dom Santa Maria del Fiore. Schon vor mehr als hundert Jahren hat man mit dem Bau begonnen, trotzdem konnte er noch immer nicht vollendet werden.«
    »Weil das Geld dafür fehlte?«
    Pippo Truffano schmunzelte. »Nein, daran hat es
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