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Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Titel: Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Autoren: Jörg S. Gustmann
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aus ihren Lungen, als käme ein leises »Leb wohl aus ihnen hervor. Auf ihre Weise hatte sie ihn wohl sehr geliebt. Und was hatte sie nicht alles versucht, ihn zum Glauben an einen gütigen Gott zu bewegen. Angefangen von kindlichen Gutenacht-Gebeten über regelmäßige, für Kinder zugeschnittene Bibellektionen. Alles, um den Samen des christlichen Glaubens in sein Herz zu pflanzen, doch dieser Same fiel auf einen steinigen und unfruchtbaren Boden. Vielleicht mangelte es ihm auch einfach nur an einem kräftigen Vaterstamm, an den man das zarte Pflänzchen hätte stützend anbinden können. Dergleichen war jedoch nicht vorhanden, und so zeigten ihre Mühen nicht den gewünschten Erfolg und endeten in dem Drang des Sohnes, Gott die kalte Schulter zu zeigen und ihn mit Ignoranz und Verachtung zu strafen. Den Gipfel seiner Ablehnung Gott gegenüber erreichte er an jenem Tag, an dem ihn seine Mutter verließ und sich in eine »bessere« Welt verdrückte.
    Schneider schüttelte die trüben Gedanken ab und erreichte den Eingangsbereich der Klinik. Ein Sensor erfasste seine Ankunft, und die Glastür öffnete sich zischend. Schneider orientierte sich und schritt zügig in Richtung der Anmeldung. Er betrachtete den gemächlich hantierenden Pförtner in seinem Glashäuschen, der sich nur unwesentlich zu bewegen schien, verschiedene Knöpfchen auf dem Pult vor seinem Bauch drückte und aussah, als sei er bereits damit überfordert. Schneider betrachtete ihn eine kurze Zeit und musterte ihn verständnislos durch die trennende Glasscheibe. Dann sagte er: »Melden Sie mich bitte bei Dr. Bergau an. Dr. Schneider ist mein Name.«
    Ohne aufzublicken und als gäbe es keinerlei Eile auf dieser Welt, tippte der unter Bewegungsmangel leidende Mann eine fünfstellige Nummer in die imposante Telefonanlage. »Ein Dr. Schneider möchte zu Ihnen. … Gut. Ich sag ihm Bescheid.«
    Jetzt hob der Mann erstmals seinen kugeligen Kopf an und deutete auf eine kleine Sitzgruppe gegenüber der Anmeldung. »Nehmen Sie dort bitte Platz. Dr. Bergau ist unterwegs.«
    Schneider nickte kurz und wandte sich ab. Er folgte der Anweisung des Pförtners nicht, sondern patrouillierte vor der Sitzgruppe auf und ab. Was wird mich erwarten, f uhr es ihm durch den Sinn . Was, wenn er schon tot ist? Schneider versuchte, dieselbe Sicherheit wie in der Firma an den Tag zu legen, es wollte ihm nicht gelingen. Zu viele Erinnerungen an seine Kindheit stiegen wie träge blubbernde Blasen aus der Tiefe seines inneren Morastes auf, und mit jedem Zerplatzen offenbarten sie den Gestank, aus dessen Versteck sie emporquollen.
    Der Pförtner hatte Dr. Bergau mit einem Kopfnicken zu verstehen gegeben, dass der unruhige, gut gekleidete Mann der Sohn seines Patienten sein müsse. Ein Stethoskop hing um den Hals des Mediziners, dessen Membran in der linken Brusttasche seines makellos weißen Kittels verschwunden war.
    »Dr. Schneider?« Bergau streckte ihm die Hand entgegen und lächelte ihn müde an.
    »Ja, der bin ich. Dr. Bergau, nehme ich an«, antwortete Schneider, während er die ausgestreckte Hand entgegennahm.
    Bergau nickte. »Kommen Sie bitte mit.« Er deutete in eine bestimmte Richtung und berührte Schneider mit der anderen Hand kaum merklich am Arm, um seine Aufforderung zu unterstreichen. Schneider folgte dem Arzt schweigend. Es schien, als verlöre er im Angesicht von humpelnden Kranken oder auf einer Trage rollenden Patienten den letzten Rest seines hart erarbeiteten Selbstvertrauens.
    Sie durchschritten Flure, passierten diverse Glastüren und erreichten den Intensivbereich.
    »Ziehen Sie bitte ihre Schuhe aus und diese grünen Klocks an. Ihr Sacko können Sie in diesen Schrank hängen. Sie müssen diesen Kittel und den Mundschutz umlegen. Der Bereich hinter der Schleuse ist steril, Sie verstehen.«
    Schneider folgte den Anweisungen des Arztes unverzüglich. Er spürte deutlich, dass dies nicht das Terrain war, auf dem er das Sagen hatte.
    Mit einem grünen OP-Kittel bekleidet, hinter einem Mundschutz versteckt und mit einer Haube, die die letzten kümmerlichen Haare vor der Umwelt verbarg, wurde Schneider von Bergau zu seinem sterbenden Vater geführt.
    »Ich lasse Sie jetzt für einen Augenblick mit Ihrem Vater allein. Wenn Sie eine Schwester oder mich rufen möchten, drücken Sie bitte diesen Knopf.«
    Schneider registrierte im Augenwinkel den Alarmknopf und nickte nur. Er konnte seinen Blick nicht mehr von dem verschrumpelten Häufchen Elend dort im Bett lösen.
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