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Hühnergötter

Titel: Hühnergötter
Autoren: Birgit Lautenbach
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spülte den Rest Kuchen mit einem Schluck Kaffee hinunter. »Aber wie …«
    Pieplow ließ sich nicht stören. Zufrieden stellte er fest, dass seine Strategie wieder einmal richtig gewesen war. Genau gegenüber dem Einstichloch im Rand des Berliners sammelte sich die Himbeermarmelade. Genüsslich schob er sich den süßen Rest in den Mund und leckte die zuckrigen Finger ab.
    »Ja … nein … wir kommen!« Pieplow hörte die Anspannung in Kästners Stimme. Er war schon auf dem Weg zur Tür, bevor Kästner sagen konnte: »Maries Kind ist weg!«
    »Was heißt das: weg?«
    »Keine Ahnung. Es lag nicht mehr im Kinderwagen, als sie es holen wollte.« Kästner schob sich hinter das Lenkrad des Streifenwagens. »Mehr war in dem Geschrei nicht zu verstehen.«
    Auf das Martinshorn verzichtete er. Für die dreihundert Meter zu dem zwischen den Hotels Godewind und Süderhof gelegenen Haus hätte er das übertrieben gefunden, auch wenn sie durch den Zug der Fußgänger auf dem Norderende nur langsam vorankamen. An der Blauen Scheune stand ein Hobbyfotograf breitbeinig mitten auf der Straße, während seine Familie neben den mannshohen Königskerzen vor dem Künstlerhaus posierte. Mutter, Tochter, Sohn. Wie die Orgelpfeifen.
    Um die Postkartenständer vor der Buchhandlung ein Pulk Tagesgäste. Schöne Grüße aus Hiddensee. Querverkehr am Wallweg, die einen pilgerten zum Strand, die anderen Richtung Kaufhalle.
    Kästners Hände griffen fest ums Lenkrad. Er drängelte, bis es genug Platz für den Streifenwagen gab.
    Pieplow saß schweigend neben ihm und versuchte sich vorzustellen, was ihn erwartete. Irgendeine verdrehte Geschichte vermutlich. Ein Missverständnis. Jemand war mit dem Kind spazieren gegangen, ohne Bescheid zu sagen. Etwas in dieser Art, und Marie war gleich hysterisch geworden. Soweit Pieplow sich mit jungen Müttern auskannte, war das wohl nichts Ungewöhnliches. Obwohl, Marie war eigentlich nicht der Typ für Nervenzusammenbrüche. Eher ruhig, eigentlich immer gut gelaunt. Nett, fand Pieplow. Ziemlich groß für eine Frau, eins fünfundsiebzig, schätzte er. Schönes Haar, wellig, dunkel, manchmal im Nacken zusammengebunden. Seit sie das Kind hatte, vielleicht fünf, sechs Kilo zu viel, jedenfalls für seinen Geschmack. Aber natürlich kein Vergleich mit der Trommel, die sie bis zum Mai vor sich hergetragen hatte. Als sie vor vier Jahren ankam, um ganz auf der Insel zu bleiben, war nicht nur er skeptisch gewesen. Es gab zu viele, die vom Leben hier träumten, und dann nach dem ersten Winter schnell wieder das Weite suchten. Aber sie hielt durch, kümmerte sich um die alte Fine, um die Ferienwohnungen und alles andere auch.
    Er sah ihr die Verzweiflung von weitem an, während Kästner sich noch darauf konzentrierte, den Wagen neben dem Zaun abzustellen. Wie gehetzt lief sie vom Apfelbaum hinter das Haus, kam wieder zum Vorschein und wandte sich Richtung Straße, nur um abrupt kehrtzumachen und zum Atelier zu laufen. Ihr Mann stand neben dem Kinderwagen, das Gesicht zur abweisenden Maske erstarrt. Die Arme hatte er um den eigenen Brustkorb geschlungen, und mit den Händen krallte er sich in den Hemdseiten fest.
     
    »Das gibt es nicht.« Kästners Stimme klang ruhig und entschieden. »Hier verschwindet nicht einfach ein Säugling. Du wirst sehen, wie schnell sich das geklärt hat.«
    Anders konnte es gar nicht sein. Auf dieser Insel wurden nicht einmal Fahrräder geklaut, und wer seinen Rucksack am Strand vergaß, fand ihn ein paar Stunden später unangetastet genau dort, wo er ihn hatte stehen lassen. Drüben auf Rügen passierte schon mehr, vom Festland ganz zu schweigen. Aber nicht auf Hiddensee.
    »Habt ihr die Nachbarn schon gefragt?« Kästner begann mit dem Einfachsten.
    Marie schüttelte den Kopf. »Die nehmen doch nicht einfach Leonie mit!«
    Ihre Stimme klang gepresst und so, als flehe sie ihn an, endlich etwas zu tun.
    »Trotzdem«, beharrte er. Eine Seitwärtsbewegung seines Kopfes gab Pieplow den wortlosen Auftrag, sich der Sache anzunehmen. Er selbst legte Marie den Arm um die Schultern, um sie ins Haus zu führen. Sie wich ihm mit einer heftigen Bewegung aus.
    »Nicht«, flüsterte sie, »nicht anfassen.«
    die alte Fine stand in der Haustür, als sie aus dem Garten kamen. Der Stock, auf den sie sich stützte, wackelte bedenklich hin und her, die andere Hand hatte Mühe, am Türrahmen Halt zu finden. Kästner sah auf die Uhr. Zehn nach drei. Seit über einer Stunde war das Kind weg. Es wurde Zeit,
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