Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Hühnergötter

Titel: Hühnergötter
Autoren: Birgit Lautenbach
Vom Netzwerk:
hielten.
    Ein drei Monate alter Säugling, fasste er knapp zusammen. Weiblich. Keine besonderen Merkmale. Ein Säugling eben, in rosa-rot-blau geringeltem Hemdchen. Kein Hinweis auf seinen Verbleib. Keine Erklärung für das Verschwinden des Kindes. Offensichtlich aus dem Kinderwagen genommen, in dem es schlief. Vitte, Süderende, gegen vierzehn Uhr. Und dass zwei Schiffe vor Schaprode auf Anweisung warteten.
    »Sie kommen.« Kästner klang erleichtert und holte tief Luft, bevor er fortfuhr: »Wir sollen den Tatort sichern. Dann …«
    Ein Schrei drang aus den geöffneten Fenstern des Hauses in den Sommernachmittag, lang gezogen und so verzweifelt, dass es Pieplow fröstelte.
    »Ruf den Arzt«, wies er an, »ich kümmere mich um die Absperrung.« Er machte sich in Richtung Auto davon, froh, nicht in das Haus zu müssen, in dem es schlagartig still geworden war. Vielleicht ist sie in Ohnmacht gefallen, dachte er, es wäre ja fast ein Segen.
    Dem Streifenwagen hatte bisher niemand Beachtung geschenkt. Bei Maries Schrei waren die ersten Passanten stehen geblieben. Als Pieplow jetzt den Kofferraum öffnete und mit dem rot-weißen Absperrband den schmalen Pfad über die Wiese Richtung Atelier ging, hatte er schon ein Dutzend Zuschauer und wusste nicht genau, ob er sich eher wichtig oder mehr unbehaglich fühlen sollte. Er entschied sich für unbehaglich, als er sah, wie schnell immer mehr Neugierige kamen, die jede seiner Bewegungen verfolgten.
    Wie er mit dem Band zwischen zwei Zäunen die Passage über die Wiese unmöglich machte und dann die Kamera aus dem Wagen holte. Wie er aus verschiedenen Perspektiven fotografierte und schließlich den Kinderwagen in die Rettungsdecke einhüllte, die eigentlich Unfallopfer warm halten sollte. Der Wagen stand mit seiner glänzenden Hülle wie ein riesiges bösartiges Präsent unter dem Apfelbaum. Etwas weniger Auffälliges wäre Pieplow lieber gewesen. Doch besser so, entschied er, als dass eine Möwe möglicherweise auf den einzigen verwertbaren Fingerabdruck kackte oder ausgerechnet jetzt Wind aufkommt und wichtige Faserreste davonbläst.
    »Was ist denn hier passiert?«, wollte ein hagerer Braungebrannter mit weißer Baseball-Kappe wissen, der ihm den Weg zum Auto zurück versperrte.
    »Treten Sie bitte zurück!«, forderte Pieplow, statt Auskunft zu geben, und: »Gehen Sie bitte weiter!« Kaum jemand kümmerte sich darum. Eigentlich niemand. Immer mehr Leute blieben stehen, einige fotografierten, zwei kleine Jungs begannen wild am Absperrband zu zerren. Pieplow breitete die Arme aus, als müsse er an einer belebten Kreuzung die Ampelanlage ersetzen.
    Der Arzt kam und verschwand grußlos im Haus.
    »Herr Wachtmeister!« Eine Frau zupfte an Pieplows Uniformhemd. »Hören Sie, Herr Wachtmeister …«
    »Gehen Sie bitte weiter«, wiederholte Pieplow.
    »Aber ich …«
    »Weitergehen, bitte!«
    »Aber mir ist ein Fahrrad geklaut worden!«, protestierte die Frau.
    Pieplow fühlte sich überfordert. Tatort sichern, Gaffer in Schach halten und Diebstahlsanzeige aufnehmen waren eindeutig zu viele Aufgaben gleichzeitig. Die Jungs von der Feuerwehr befreiten ihn aus seiner Zwangslage. Sie übernahmen die Absperrung und den Dialog mit den Urlaubern.
    »Treten Sie bitte zurück!« »Weitergehen! Gehen Sie bitte weiter, hier gibt’s nichts zu sehen!«
    Aber sie hatten außer Verstärkung für die Ortspolizei auch ihr Einsatzfahrzeug mitgebracht. Es stand groß und rot mit stumm kreisendem Blaulicht zwischen Streifenwagen und Arztauto, so dass jeder sah: Hier ist etwas passiert!
    Bald würden nicht nur die stehen bleiben, die zufällig vorbeikamen. Pieplow fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sich herumgesprochen hatte, dass es am Süderende Unterhaltung gab, die in keinem Veranstaltungskalender angekündigt war. Er seufzte und hatte das Gefühl, sich wie ein blutiger Anfänger zu verhalten. Die Frau mit dem gestohlenen Fahrrad vertrieb sich die Wartezeit mit Spekulationen über das verschwundene Kind.
    »Man liest ja so viel heutzutage«, sagte sie zu einem älteren Ehepaar neben sich, das zustimmend nickte. »Gar nicht auszudenken, was da passiert sein kann.«
    »Was ist jetzt mit Ihrem Fahrrad?«, unterbrach Pieplow und nahm es hin, dass er mit einem Blick bedacht wurde, der etwas wie »wurde auch Zeit« ausdrückte.
    »Ich hab’s da hinten nur kurz abgestellt«, erklärte sie. Ihr ausgestreckter Arm wies auf ein Zaunstück gegenüber dem Süderhof . »Noch nie ist mir hier etwas
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher