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Hüftkreisen mit Nancy

Hüftkreisen mit Nancy

Titel: Hüftkreisen mit Nancy
Autoren: Stefan Schwarz
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dass er sich irgendwie abgefangen hätte. Ich ging einen Schritt nach vorn und sah hinunter. Mir wurde flau und grau, denn einen Meter unter mir lag der Mann mit der weinroten Steppjacke, den Kopf auf irreparable Art zur Seite abgeknickt. Die leere Wodkaflasche rollte die Rasenfläche hinunter auf den Gehsteig. «Geht es Ihnen nicht gut?», fragte ich, aber die Frage kam zu spät. Dem Mann ging es gar nicht mehr. Der Mann war tot. Ich betrachtete meinen Fuß, der in einem etwas ausgetretenen Slipper steckte. Hatte ich ihn damit umgebracht? Natürlich nicht. Entscheidend war doch eher die Lage des Mannes. Da hätte ein Vogelschiss auf den Kopf genügt, und der wäre gekippt. Balance-Spezialisten der Kriminalpolizei würden mir recht geben. Der war längst tot. Gott sei Dank dampfte jetzt hinter mir die Automatiktür der Kaufhalle auf. Ich holte schnell Brötchen und sagte beim Bezahlenbeiläufig, da draußen läge einer so komisch rum. Die Kassiererin ging nachschauen und kam schreiend wieder, man solle einen Notarzt rufen. Ich stand noch ein bisschen im Eingang, die warmen Brötchen in der Tüte, aber keiner wollte was von mir. Ein Sanitätswagen kam angefahren. Ein Sanitäter und eine Ärztin sprangen heraus, liefen auf den Mann zu. Als sie nahe genug war, rief die Ärztin: «Ach, du Scheiße!», und wandte sich kurz ab, um ihre Rettungsabsichten hörbar auszuatmen. Der Sanitäter machte ein zischendes Geräusch, wie einer, der nachempfinden kann, was er da sieht. Aber das war hier natürlich kaum möglich. Die ersten Kunden kamen. Einige Hartgesottene blieben stehen, um zu gaffen. Andere defilierten, große ernste Augen auf den Corpus gerichtet, langsam die kurze Treppe zur Kaufhalle hinauf. Die Brötchen waren immer noch warm, und ich beschloss, nach Hause zurückzukehren, bevor die auch noch kalt wurden.
     
    Dorit kam mit der schlafwuscheligen Mascha auf dem Arm in die Küche und setzte sich an den Tisch. «Frag nicht!», befahl sie, gab dann aber selbst Auskunft: «Von vier bis sechs habe ich wach gelegen.» Ich brachte ihr wortlos einen Kaffee, was sie mit einem «Danke» beseufzte, und schnitt ihr ein Brötchen auf. Dann setzte ich mich ihr gegenüber und lächelte kurz, damit sie mich nicht nach meiner Gemütsverfassung fragen konnte.
    Im Normalzustand wirkt mein Gesicht auf andere depressiv. Also habe ich mir angewöhnt, von Zeit zu Zeit ein mildes Lächeln und ein munteres Augenbrauenheben in meine Miene zu streuen. Wie die Spätsommersonne, die jetzt durchs Fenster schien, so schien auch ich. Der Tischwar reich gedeckt, demonstrativer Konsum, es gab geräucherte Putenbrust, Mortadella, spanischen Schinken, dreierlei Käse, von mild bis würzig, Quark, ja sogar «Unsere Frühstücksmarmelade des Jahres», aber für den Mann vor der Kaufhalle würde es das alles nicht mehr geben. Wahrscheinlich arbeiteten die Lebensmittelchemiker schon an der nächsten Jahres-Frühstücksmarmelade, die noch besser schmeckte. Ob ihn diese Aussicht davon abgehalten hätte, sich totzusaufen? Keine Ahnung. Das würde mir jedenfalls nicht passieren. Ich würde noch mindestens dreißig Frühstücksmarmeladen des Jahres durchhalten. «Was guckst du denn so finster?», fragte Dorit jetzt, und Mascha drehte sich aus dem Halsbeugenkuscheln um und sah mich an. «Ich habe heute Morgen einen Mann vor der Kaufhalle gesehen, der offenbar an einem Alkoholabusus verschieden war», wählte ich kinderseelenschonend meine Worte. «Keiner der hiesigen Nuschelstruppis und auch noch nicht lange auf Trebe. Der sah eher aus wie jemand, dem plötzlich alles entglitten war. Baufacharbeiter mittleren Alters, wahrscheinlich unter der Woche im Westen auf Montage. Möglicherweise Scheidungssache. Die Frau überlastet und kalt. Die Kinder adipös und ADS, Fertigteileigenheim in Randlage, in dreißig Jahren lastenfrei, zwei Gebrauchtwagen mit Reparaturbedarf. Das war alles, wofür er gelebt hat. Und dann die Scheidung und der Schnaps   …» Ich schnippte mit den Fingern und pustete sein Leben in die Luft. «Und da habe ich mich eben gefragt, ob die Sinnangebote des Kapitalismus nicht einen alten Scheißdreck wert sind.»
    «Ich habe noch ein Sinnangebot für dich, Genosse. Du musst die nächsten Wochen Mascha aus der Kita holen. Ichbin mit dem Lindenwohnpark-Projekt im Verzug und muss mal länger machen, sonst schaffe ich es nicht bis zur
Immo-World
», sagte Dorit nicht unfreundlich.
    «Scheißdreck ist ein Schimpfwort, nicht wahr?», petzte Mascha und
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