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Honig

Honig

Titel: Honig
Autoren: Ian McEwan
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passend zu den bescheidenen Rollen, die er in der Öffentlichkeit spielte. Ich bemerkte das wellige, akkurat gescheitelte Haar, die feuchten fleischigen Lippen und eine kleine Kerbe in der Mitte seines Kinns, die mir liebenswert vorkam, denn selbst bei dem schlechten Licht sah ich, dass er Mühe hatte, sich dort sauber zu rasieren. Aus der senkrechten kleinen Mulde ragten widerborstige dunkle Stoppeln. Er war ein gutaussehender Mann.
    Nach der Begrüßung stellte Canning mir einige Fragen. Höflich und harmlos – zu meinem Abschluss, dem Newnham College, dem Rektor, der ein guter Freund von ihm war, zu meiner Heimatstadt, zur Kathedrale. Jeremy schaltete sich mit ein wenig Smalltalk ein, und dann unterbrach Canning wiederum ihn und bedankte sich dafür, dass er ihm meine letzten drei Artikel für ?Quis? gezeigt habe.
    Er wandte sich wieder an mich. »Verdammt gute Texte. Sie haben echtes Talent, meine Liebe. Wollen Sie Journalistin werden?«
    [24] ?Quis? war ein Studentenblatt, nichts für ernsthafte Leser. Ich freute mich über das Lob, aber jung, wie ich war, wusste ich Komplimente nicht anzunehmen. Mein bescheidenes Gemurmel kam etwas abschätzig heraus, und bei dem Versuch, mich zu korrigieren, verhaspelte ich mich. Der Professor erbarmte sich meiner und lud uns zum Tee ein; wir nahmen die Einladung an, das heißt, Jeremy nahm sie an. Und so folgten wir Canning zurück über den Markt zu seinem College.
    Seine Wohnung war kleiner, schäbiger und chaotischer, als ich erwartet hatte, und beim Teekochen stellte er sich überraschend nachlässig an, spülte die klobigen braunfleckigen Becher nur flüchtig aus, ließ heißes Wasser aus einem schmutzigen Elektrokocher auf Papiere und Bücher tropfen. Nichts davon passte zu dem Bild, das ich mir später von ihm machen sollte. Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz, wir ließen uns in die Sessel sinken, und er stellte mir noch mehr Fragen. Fast wie im Seminar. Jetzt, da ich an seinen Fortnum-&-Mason-Schokoladenkeksen knabberte, fühlte ich mich verpflichtet, etwas ausführlicher zu antworten. Jeremy ermunterte mich, indem er stupide zu allem nickte, was ich sagte. Der Professor fragte nach meinen Eltern, wie es sei, »im Schatten einer Kathedrale« aufzuwachsen – ich erwiderte, recht geistreich, wie mir schien, da sei kein Schatten, weil die Kathedrale nördlich von unserem Haus stehe. Beide Männer lachten, und ich fragte mich, ob mein Scherz eine tiefere Bedeutung habe, die mir entging. Dann kamen wir auf Atomwaffen und Forderungen in der Labour Party nach einseitiger Abrüstung zu sprechen. Dazu spulte ich einen Satz ab, den ich irgendwo [25] gelesen hatte – ein Klischee, wie mir später klarwurde. Es sei unmöglich, »den Geist in die Flasche zurückzuzaubern«. Atomwaffen könne man nur unter Kontrolle halten, nicht abschaffen. So viel zu jugendlichem Idealismus. In Wirklichkeit hatte ich keine spezielle Meinung zu diesem Thema. In einem anderen Zusammenhang wäre ich vielleicht für nukleare Abrüstung gewesen. Ich suchte – auch wenn ich das bestritten hätte – zu gefallen, die richtigen Antworten zu geben, mich interessant zu machen. Ich mochte es, wie Tony Canning sich vorbeugte, wenn ich etwas sagte, ich fühlte mich angespornt von seinem knappen zustimmenden Lächeln, das seine dicken Lippen in die Breite zog, ohne sie zu öffnen, und von seiner Art, »Verstehe« oder »Genau …« zu sagen, wenn ich eine Pause einlegte.
    Vielleicht hätte mir klar sein müssen, worauf das hinauslief. Ich hatte mich im winzigen Treibhaus der Studentenpresse als Kalte Kriegerin zu erkennen gegeben. Aus heutiger Sicht ist es sonnenklar. Wir waren schließlich in Cambridge. Warum sonst würde ich von diesem Gespräch erzählen? Damals hatte das Treffen für mich keinerlei Bedeutung. Wir waren auf dem Weg zu einer Buchhandlung gewesen und stattdessen bei Jeremys Tutor zum Tee eingekehrt. Nichts besonders Merkwürdiges. Die Rekrutierungsmethoden waren damals im Wandel, aber nur allmählich. Die westliche Welt mochte stetigen Veränderungen unterliegen, die Jungen mochten denken, sie hätten eine neue Art der Kommunikation miteinander entdeckt, die alten Mauern zerbröckelten angeblich von den Fundamenten her. Aber die berühmte »Hand auf der Schulter« wurde immer noch aufgelegt, vielleicht nicht mehr so oft, vielleicht [26] mit weniger Druck. An den Universitäten hielten manche Dozenten weiterhin Ausschau nach vielversprechendem Nachwuchs und gaben die Namen für
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