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Honig

Honig

Titel: Honig
Autoren: Ian McEwan
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Weißdorngestrüpp, ein kleines weißes Gattertor. Ein Plattenweg schlängelte sich durch einen verwilderten Bauerngarten (Lupinen, Malven, hoher Klatschmohn) zu einer schweren, mit Nieten oder Nägeln beschlagenen Eichentür. Durch diese Tür gelangte man ins Esszimmer, einen Raum mit riesigen Bodenplatten und halb von Putz bedeckten, wurmstichigen Deckenbalken. An der Stirnwand hing eine heitere mediterrane Szene, weißgetünchte Häuser und Bettlaken an einer Wäscheleine. Das Aquarell stammte von Winston Churchill, er hatte es 1943 in Marrakesch während einer Konferenzpause gemalt. Wie es in Tonys Besitz gelangt war, habe ich nie erfahren.
    Frieda Canning, eine Kunsthändlerin, die oft im Ausland unterwegs war, kam nicht gern hierher. Sie störte sich an [30] der Feuchtigkeit und dem Schimmelgeruch und der vielen Arbeit, die ein Zweithaus mit sich brachte. Aber der Geruch verflog, sobald das Haus geheizt wurde, und die Arbeiten wurden allesamt von ihrem Mann erledigt. Man brauchte dazu besondere Fähigkeiten und Kenntnisse: wie man den störrischen Rayburn-Ofen anmachte, das klemmende Küchenfenster öffnete, die Klospülung zum Laufen brachte, die erschlagenen Mäuse in den Fallen aus dem Haus beförderte. Ich musste nicht einmal groß kochen. Nach jener nachlässigen Teestunde hätte man ihm gar nicht zugetraut, dass er sich in der Küche so viel Mühe gab. Manchmal durfte ich ihm assistieren, und er brachte mir eine Menge bei. Er kochte italienisch, das hatte er in seinen vier Jahren als Dozent an einem Institut in Siena gelernt. Da er es am Rücken hatte, musste ich bei jedem unserer Besuche erst einmal Säcke mit Nahrungsmitteln und Wein von seinem alten MGA , der auf dem Acker parkte, durch den Garten schleppen.
    Für englische Verhältnisse war es ein recht guter Sommer, und Tony gab ein gemächliches Tempo vor. Mittags aßen wir oft im Schatten einer alten Zwergmispel im Garten. Nach seinem Mittagsschläfchen nahm Tony meist ein Bad, und bei warmem Wetter legte er sich anschließend in eine zwischen zwei Birken aufgespannte Hängematte und las. Wenn es jedoch richtig heiß war, bekam er manchmal Nasenbluten und musste sich drinnen hinlegen, einen Waschlappen mit Eiswürfeln aufs Gesicht gepresst. Abends machten wir gelegentlich ein Picknick im Wald, mit einer Flasche Weißwein, in ein frisches Geschirrtuch gewickelt, Weingläsern aus einem Zedernholz-Kästchen und einer [31] Thermoskanne Kaffee. Ein Galadinner sur l’herbe. Es gab Tassen und Untertassen, eine Damasttischdecke, Porzellanteller, Silberbesteck und einen mit Leinwand bespannten Klappstuhl aus Aluminium – ich schleppte alles, ohne zu murren. Später im Sommer machten wir keine weiten Spaziergänge mehr, denn Tony sagte, das Gehen bereite ihm Schmerzen und mache ihn schnell müde. Abends spielte er auf einem alten Grammophon gern Opern, aber so eindringlich er mir die Protagonisten und Intrigen in Aida, Così fan tutte und L’elisir d’amore erklärte, ich konnte mit diesen schrillen, schmachtenden Stimmen nicht viel anfangen. Das altmodische Knistern und Knacken der stumpfen Nadel, die auf der verzogenen Platte auf und ab schwankte, hörte sich an wie der Äther, aus dem die Toten verzweifelt nach uns riefen.
    Er erzählte mir gern von seiner Kindheit. Sein Vater war Marineoffizier im Ersten Weltkrieg gewesen und ein erfahrener Segler. Ende der zwanziger Jahre verbrachte die Familie die Ferien meist auf der Ostsee, wo man von Insel zu Insel kreuzte. So kam es, dass seine Eltern auf dem entlegenen Eiland Kumlinge ein Steinhäuschen entdeckten und kauften. Ein von wehmütigen Erinnerungen verklärtes Kindheitsparadies. Tony und sein älterer Bruder streunten frei umher, machten Lagerfeuer und schliefen am Strand, ruderten zu einer unbewohnten kleinen Nachbarinsel hinüber und stahlen Vogeleier. Zum Beweis, dass dieser Traum Wirklichkeit gewesen war, zeigte er mir rissige Boxkamera-Schnappschüsse.
    Eines Nachmittags Ende August gingen wir in den Wald, wie so oft. Diesmal aber bog Tony vom Weg ab, und ich [32] tappte blindlings hinterdrein. Wir trampelten durchs Unterholz, und ich nahm an, wir würden uns an einem Ort lieben, den nur er kannte. Das Laub war trocken genug. Aber er hatte nur Pilze im Kopf, Steinpilze. Ich verbarg meine Enttäuschung und erfuhr, woran man die Dinger erkannte – Poren statt Lamellen, ein filigranes Netz am Stiel, keine Verfärbung, wenn man das Fleisch mit dem Daumen eindrückt. Am Abend bereitete er eine
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