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Honig

Honig

Titel: Honig
Autoren: Ian McEwan
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steckte und seinen akkuraten Scheitel nachgezogen hatte (er benutzte Haaröl und einen Stahlkamm), wenn er wieder groß und gut war, mich in einen Sessel setzte, mit flinken Fingern einen Pinot Grigio entkorkte [35] und mir Lektüreempfehlungen gab. Das ist mir seither, über die Jahre, immer wieder aufgefallen – der gewaltige Unterschied zwischen dem nackten und dem bekleideten Mann. Zwei Männer mit demselben Pass. Aber auch das war unerheblich, es gehörte alles zusammen – Sex und Kochen, Wein und kurze Spaziergänge, Gespräche. Und fleißig waren wir auch. Zu Beginn, im Frühling und Frühsommer dieses Jahres, bereitete ich mich auf die Abschlussprüfungen vor. Tony konnte mir dabei nicht helfen. Er saß mir gegenüber und schrieb an seiner Monographie über John Dee.
    Tony hatte jede Menge Freunde, aber natürlich lud er nie jemanden ein, wenn ich da war. Besuch hatten wir nur ein einziges Mal. Eines Nachmittags kamen sie in einem Wagen mit Chauffeur, zwei Männer in dunklen Anzügen, beide in den Vierzigern, schätzte ich. Tony fragte reichlich schroff, ob ich nicht einen längeren Spaziergang im Wald machen wolle. Als ich anderthalb Stunden später zurückkam, waren die Männer nicht mehr da. Tony gab mir keine Erklärung, doch am selben Abend fuhren wir nach Cambridge zurück.
    Wir trafen uns ausschließlich in diesem Cottage. In Cambridge – praktisch ein Dorf – war Tony zu bekannt. Ich musste immer mit meiner Reisetasche zu einer Wohnsiedlung am äußersten Stadtrand marschieren und an einer Bushaltestelle warten, bis er mich mit seinem maroden Sportwagen abholte. Der war eigentlich ein Cabrio, aber die Mechanik, die das Leinwandverdeck wie eine Ziehharmonika zurückfalten sollte, war völlig eingerostet. Dieses alte MGA -Modell hatte noch einen Suchscheinwerfer an einer Chromstange und einen Tacho mit zitternder Nadel. Es roch nach Motoröl und Reibungshitze, ähnlich vielleicht [36] wie in einer Spitfire aus den Vierzigern. Man spürte das Vibrieren des warmen Blechbodens unter den Füßen. Ich fand es aufregend, unter den missbilligenden Blicken der normalen Passagiere aus der Warteschlange zu treten, vom Frosch zur Prinzessin zu werden und mich gebückt auf den Beifahrersitz gleiten zu lassen, neben den Professor. Es war, als steige man in aller Öffentlichkeit ins Bett. Ich schob meine Tasche in den schmalen Raum hinter mir und spürte, wie meine Seidenbluse – die hatte er mir bei Liberty’s gekauft – sich an dem rissigen Ledersitz rieb, während ich mich zu ihm hinüberbeugte, um mir meinen Kuss abzuholen.
    Kaum waren die Abschlussprüfungen vorbei, erklärte Tony, er werde sich jetzt meiner Lektüre annehmen. Genug Romane! Er war entsetzt, wie wenig ich von unserer »Inselgeschichte« wusste, so nannte er das. Und er hatte ja recht. Nach meinem vierzehnten Lebensjahr hatte ich auf der Schule keinen Geschichtsunterricht mehr gehabt. Jetzt war ich einundzwanzig und hatte eine privilegierte Ausbildung genossen, aber Agincourt, das Gottesgnadentum und der Hundertjährige Krieg waren für mich bloß nichtssagende Wörter. Bei »Geschichte« dachte ich nur an eine langweilige Abfolge von Königen und mörderisches Gerangel unter Kirchenleuten. Aber ich unterwarf mich Tonys Lehrplan. Der Stoff war interessanter als Mathe, und die Lektüreliste war kurz – Winston Churchill und G. M. Trevelyan. Den Rest wollte mein Professor mündlich mit mir durchnehmen.
    Die erste Lektion fand unter der Zwergmispel im Garten statt. Ich erfuhr, dass die englische und dann britische Europapolitik seit dem sechzehnten Jahrhundert auf ein [37] Gleichgewicht der Kräfte abzielte. Ich wurde aufgefordert, mich über den Wiener Kongress von 1815 kundig zu machen. Tony erklärte nachdrücklich, ein ausgeglichenes Kräfteverhältnis sei das Fundament eines rechtmäßigen Systems friedfertiger Diplomatie. Es sei von entscheidender Bedeutung, dass Nationen sich gegenseitig in Schach hielten.
    Meist las ich nach dem Mittagessen, wenn Tony sein Nickerchen machte – er schlief immer länger, je weiter der Sommer voranschritt, und das hätte mir auffallen sollen. Anfangs beeindruckte ich ihn mit meinem Lesetempo. Zweihundert Seiten in zwei Stunden! Dann enttäuschte ich ihn. Ich konnte seine Fragen nicht präzise beantworten, ich konnte Informationen nicht behalten. Er ließ mich Churchills Darstellung der Glorreichen Revolution wiederkäuen, fragte mich ab, stöhnte theatralisch – du hast ein Gedächtnis wie ein Sieb!
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