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Honig

Honig

Titel: Honig
Autoren: Ian McEwan
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Ausdruck »totalitäres System« gehörte nicht zu meinem Wortschatz. Wahrscheinlich hätte ich das für etwas Medizinisches gehalten. Mir war, als erreichten mich Nachrichten von einer unbekannten Front, als lüftete ich einen Schleier und beträte Neuland.
    Für Solschenizyns Der erste Kreis der Hölle brauchte ich eine Woche. Der Titel bezog sich auf Dante. Sein erster Höllenkreis war griechischen Philosophen vorbehalten und, welch ein Zufall, ein angenehmer ummauerter Garten inmitten schrecklicher Höllenqualen, ein Garten, aus dem es kein Entkommen und keinen Weg ins Paradies gab. Ich machte den typischen Fehler aller Schwärmer, ich nahm an, der Rest der Menschheit sei ebenso ahnungslos, wie ich es zuvor gewesen war. Meine Kolumne wurde zur Tirade. Wusste man im blasierten Cambridge nicht, was dreitausend Meilen weiter östlich passiert war und immer noch passierte, hatte man nicht mitbekommen, wie verheerend sich diese gescheiterte Utopie mit ihren Schlangen vor den Geschäften, der hässlichen Kleidung und den Reisebeschränkungen auf den Geist der Menschen auswirkte? Wie sollte man dagegen angehen?
    ?Quis? akzeptierte vier Salven meines Antikommunismus. Nun las ich Koestlers Sonnenfinsternis, Nabokovs Das Bastardzeichen und Miloszs großartige Abhandlung Verführtes Denken. Ich war auch der erste Mensch auf Erden, der Orwells 1984 verstand. Aber mit dem Herzen blieb ich immer bei meiner ersten Liebe, Alexander. Diese Stirn, die sich wie eine orthodoxe Kirchenkuppel erhob, der eckige Bart eines Landpfarrers, die grimmige, vom Gulag verliehene Autorität, seine unbeugsame Haltung gegenüber [19] Politikern. Nicht einmal seine religiösen Überzeugungen konnten mich abschrecken. Ich sah es ihm nach, wenn er sagte, die Menschen hätten Gott vergessen. Er war Gott. Wer konnte sich mit ihm messen? Wer ihm seinen Nobelpreis verweigern? Ich starrte sein Foto an und wollte seine Geliebte sein. Ich hätte ihm gedient, wie meine Mutter meinem Vater diente. Seine Socken paarweise in kleine Schachteln legen? Ich hätte mich auf die Knie geworfen und ihm die Füße gewaschen. Mit meiner Zunge!
    Die Niedertracht des Sowjetsystems war für westliche Politiker und die Leitartikler der meisten Zeitungen in jenen Jahren ein Standardthema. Im Kontext von Uni-Leben und studentischer Politik indes galt es als ein wenig geschmacklos. Wenn die CIA dagegen war, musste doch etwas für den Kommunismus sprechen. Teile der Labour Party hielten den alternden Betonköpfen im Kreml und ihrem gespenstischen Projekt noch immer die Stange, sangen noch immer auf der Jahresversammlung die Internationale, schickten noch immer Studenten zu Freundschaftsbesuchen. Im Kalten Krieg, in dieser Zeit des Schwarzweißdenkens, ging es nicht an, mit einem amerikanischen Präsidenten, der in Vietnam Krieg führte, über die Sowjetunion einer Meinung zu sein. Aber bei jenem Rendezvous zur Teestunde im Copper Kettle erklärte mir Rona, schon damals parfümiert, präzise und perfekt, es sei nicht die politische Ausrichtung meiner Kolumne, die ihr Sorgen mache. Meine Sünde sei die Ernsthaftigkeit. In der nächsten Ausgabe ihrer Zeitschrift stand kein Wort von mir. Anstelle meiner Kolumne erschien ein Interview mit der Incredible String Band. Danach war Schluss mit ?Quis?.
    [20] Wenige Tage nach meinem Rausschmiss geriet ich in eine Colette-Phase, die mich monatelang in Bann hielt. Dazu kamen andere Sorgen. Die Abschlussprüfungen waren nur noch Wochen entfernt, und ich hatte einen neuen Freund, einen Historiker namens Jeremy Mott. Er hatte etwas Altmodisches – schlaksig, große Nase, überdimensionierter Adamsapfel. Er wirkte leicht verlottert, war auf unaufdringliche Weise clever und außerordentlich höflich. Mir waren an der Uni schon etliche von seinem Schlag aufgefallen. Sie schienen aus einer einzigen Familie zu stammen und allesamt Internate im Norden Englands besucht zu haben, wo man sie mit derselben Kleidung ausgestattet hatte. Sie waren die letzten Männer auf Erden, die noch Harris-Tweedjacken mit Lederflicken an den Ellbogen und Bordüren an den Ärmeln trugen. Ich erfuhr, allerdings nicht von Jeremy selbst, dass man von ihm einen erstklassigen Abschluss erwartete und dass er bereits einen Artikel in einer Fachzeitschrift für Geschichte des sechzehnten Jahrhunderts veröffentlicht hatte.
    Er stellte sich als zärtlicher und rücksichtsvoller Liebhaber heraus, trotz seines beklagenswert scharfkantigen Schambeins, das mir beim ersten Mal
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