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Holunderliebe

Holunderliebe

Titel: Holunderliebe
Autoren: Katrin Tempel
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Vorteil war, dass es beim Anhalten an der Ampel weiterleuchtete, war weit und breit nichts zu sehen. Ein Knistern hinter einem Baumstamm sorgte dafür, dass ich noch mehr in die Pedale trat. Dann ein sirrendes Geräusch von hinten, das immer näher kam. Ein Schulterblick – und mir war klar: Ich wurde verfolgt. Ein anderer Radfahrer war schneller als ich. Ein Mann, der gesehen hatte, dass ich mir diese finstere Strecke ausgesucht hatte?
    Ich fuhr schneller und merkte, dass mein Atem hektisch wurde. Ein Schweißtropfen lief über meine Schläfe, während ich mit der einen Hand in der Tasche nach dem Tränengas tastete, das ich immer bei mir trug. Man wusste ja nie, was einem so passieren konnte.
    Augenblicke später flog der Fahrradfahrer an mir vorbei und raste weiter. Von wegen Vergewaltiger. Nur ein anderer Radfahrer, der offenbar besser trainiert war als ich. Womöglich war ich doch ein wenig paranoid. Mit einem halben Lächeln richtete ich mich wieder im Sattel auf. Das Tränengas würde ich gleich wieder in meine Tasche stecken – ich konnte sowieso schon wieder die ersten Laternen am Ende der Abkürzung sehen.
    In diesem Augenblick tat es einen Schlag, mein Lenkrad drehte sich um neunzig Grad zur Seite und blockierte, woraufhin mein Fahrrad mit einem hässlich metallisch kratzenden Geräusch auf den Schotterboden schlug, während ich selber über den Lenker ging und mir auf dem Rest Wintersplitt meine Handflächen aufriss.
    Einige Sekunden lag ich fluchend auf der Seite und rang wieder nach Atem. Meine linke Handfläche brannte, ebenso meine linke Gesichtshälfte und das Knie. Behutsam bewegte ich erst das Bein, dann den Arm und fasste mir vorsichtig ins Gesicht. Ein brennender Schmerz ließ meine Hand zurückzucken. Offensichtlich hatte ich mir die Haut abgeschürft. Es tat höllisch weh, würde mir aber ganz sicher keinen Aufenthalt im Krankenhaus einbringen.
    Im Dunkeln tastete ich nach meinem Fahrrad und erhob mich mühsam. Als ich das Teil aufrichtete, merkte ich, dass der Lenker verdreht war – und der Fahrradkorb leer. Meine Tasche war durch den Sturz offensichtlich herausgeschleudert worden. In dieser Sekunde fiel mir das alte Buch ein. Hektisch suchte ich den Boden ab. Auf dem Weg war nichts zu finden. Angestrengt starrte ich in die Richtung, wo die Tasche gelandet sein musste – und tatsächlich: Im hohen nassen Gras, direkt neben dem Weg, lag sie.
    Offen.
    »Mistmistmistmist!«, schimpfte ich und spähte in die Tasche. Das alte, wertvolle Buch musste hier irgendwo auf dem nassen Boden liegen, wo es im Nieselregen mit jeder Sekunde, die ich es nicht finden konnte, noch mehr durchweichen würde. Hektisch fuhr ich mit meinen Fingern durch das Gras am Wegesrand. Steine, ein dorniger Ast, der mir in den Finger piekste. Irgendetwas eklig Weiches blieb an meinen Fingern kleben, und ich versuchte, es an meinen Hosenbeinen abzuwischen. Dabei stellte ich fest, dass die Hose am Knie zerrissen war.
    Schließlich stieß ich auf das Buch. Hektisch nahm ich es hoch und versuchte das Ausmaß des Schadens einzuschätzen. Sinnlos. Viel zu dunkel, aber zumindest fühlte es sich für den ersten Eindruck fast unversehrt an. Immerhin fiel es nicht auseinander, als ich es in die Hand nahm. Schnell stopfte ich es wieder in meine Tasche, die ich wieder im Fahrradkorb verstaute. Dann fuhr ich weiter. Das Schutzblech knatterte ohrenbetäubend laut an den Speichen, der Lenker saß schief – aber das Fahrrad bewegte sich.
    Während ich weiter nach Hause fuhr, wurde aus dem Nieseln ein echter, kalter Landregen, der wirklich nichts Frühlingshaftes an sich hatte. Bis ich endlich vor unserem Hexenhäuschen anhielt, war ich bis auf die Knochen durchweicht, mein Gesicht brannte vor Kälte, und meine Finger waren steif und rot.
    Das Fahrrad lehnte ich einfach gegen den Gartenzaun und verschwand so schnell wie möglich im Inneren des Hauses. Aus der Küche sahen mich drei Augenpaare neugierig an.
    Tom hob eine Augenbraue. »Was hast du denn gemacht? Ringkampf mit den Waldgeistern? Brauchst du Hilfe?«
    Ich winkte ab. »Halb so schlimm. Habe die Abkürzung durch den Wald genommen und bin über eine Wurzel oder so gefahren und dabei umgefallen.« Ich wollte möglichst schnell in mein Zimmer und mir das alte Buch ansehen, da wollte ich mich mit dem Mitleid meiner Mitbewohner nicht aufhalten.
    Aber so schnell konnte ich sie nicht abschütteln. Sandra deutete auf mein Gesicht. »Bist du dir sicher, dass du nicht zum Arzt musst?
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